Mein Sanfter Zwilling
der bunten, schrillen Plastikverpackung. Ich sah mich auf dem Weg zur Arbeit und Leos Gesicht, wenn er einen jungen, knackigen Hintern erblickte. Ich sah meinen Mann, der mit mir schlafen wollte und anstelle dessen weinte, ich sah meine Mutter, wie sie damals an meinem Bett gesessen und meine Hand in ihrer gehalten hatte, weil sie wusste, dass ich ihr entglitt. Ich sah mich in dem schäbigen Hotelzimmer, neben Ivos nacktem, frisch geduschtem Körper, auf den Abdrücken einer fremden Frau, an die er sich nicht erinnern wollte.
Und ich schrie auf.
Ich schrie auf, während im Fernseher Bilder einer Kochshow liefen, und diese Bilder ließen mich und die Welt um mich herum noch trostloser erscheinen. Es war absurd, was ich dachte, was ich mir wünschte, genauso absurd wie die Tatsache, dass sich Menschen vor Fernsehkameras versammelten, um zu kochen, und andere Menschen wiederum vor den Bildschirmen saßen und auf Gerichte starrten, die sie nie kosten, nie zubereiten, nie genießen würden.
Ich machte die Balkontür auf und ging hinaus. Ich hatte ihn davongehen sehen, auf der verregneten Straße – er verschwand wie immer, wie damals, wie jedes Mal, nachdem er sich herabgelassen und mir seine kostbare Nähe geschenkt hatte. Immer kam dann die Phase der Bestrafung. Des Entzugs, des Verschwindens, wo ich ganz offensiv aus seinem Leben gestrichen wurde, durchgestrichen, weggewischt. Mit einem weißen Marker wurde ich in seinem Kopf übermalt. All die Zelte, die er hinter sich abbrach, und all die Türen, die er vor meiner Nase zuschlug, und all die Spuren, die er hinter sich verwischte, damit ich bloß nicht auf den Gedanken kam, ihm zu folgen. Und immer ließ er mich allein, allein mit den Gedanken, die er in meinen Kopf verpflanzt hatte. Nie mehr wegzudenken.
Ich holte die Mappe hervor, die er mir dagelassen hatte. Voller Flecken und fett, dick, voll. Ich schaltete den Fernseher aus und breitete die Zettel, Fotos, Notizen auf dem Boden um mich herum aus. Inmitten des Papierbergs saß ich und suchte nach Spuren. Nach irgendwelchen Spuren, die mich davon hätten abbringen können, zu tun, was ich zu tun vorhatte. Und je mehr ich den Gedanken von mir fernhielt, desto größer wurde der Wunsch, es zu tun. Als wären meine Gedanken mit meinen Wünschen, mit meinen Gefühlen verfeindet und würden eine unerbittliche Schlacht führen.
Das Foto jenes Mannes mit Vollbart war mehrfach vorhanden. Auf den Bildern waren in Ivos schwer entzifferbarer kleiner Schrift Daten und Orte notiert, die mir alle nichts sagten.
»Lado Kancheli. 1963 geboren in Suchumi, Georgien. Georgischer Musiker und Vorreiter der georgischen Underground-Bewegung. Politaktivist. Klassische Ausbildung zum Komponisten, mit Schwerpunkt Gitarre, am Konservatorium in Tiflis, Georgien, und am Konservatorium in Moskau, UdSSR. Zwei Haftstrafen, 1979 und 1984 wegen Anstiftung zum Aufruhr gegen das Regime. Er war Anfang der 90er Mitbegründer der Nationalistischen Partei von Georgien, die unter Swiad Gamsachurdia weitergeführt wurde und aus der er 1992 offiziell austrat. 1992, während des Bürgerkriegs, führte er in Gali, Abchasien, ein georgisches Kampfbataillon. Im Krieg verlor Kancheli Familienangehörige. Einige Zeit lebte er als politischer Flüchtling in Deutschland und später in den USA, 2001 kehrte er nach Georgien zurück und lebt dort seitdem als Komponist und Musiker.«
Ich ging nochmals alle Notizen durch. Ivo hatte vor zwei Jahren von der BBC den Auftrag bekommen, eine Reportage über den Kaukasus zu machen. Thema sollte die jüngste Geschichte des Gebiets und vor allem die Beziehungen der drei größten kaukasischen Länder zu Russland sein. Dazu gehörten Georgien, Armenien, Aserbaidschan, und auch Tschetschenien bekam ein wenig Sendezeit.
Ivo hatte immer behauptet, Fernsehen sei nicht sein Medium, aber von Gesi wusste ich, dass er in den letzten Jahren Reportagen für BBC und CNN gemacht und lange Recherchereisen auf sich genommen hatte.
Die Reportage war anscheinend fertig, jedoch nie ausgestrahlt worden. Die Gründe dafür konnte ich mir denken. Bei einer Sendung, in der es nicht vordergründig um Krieg gehen sollte, waren solche Bilder, solches Material fehl am Platz. Ich konnte mir denken, dass Ivo einfach zu weit gegangen war, wie immer.
Allerdings fand ich nicht heraus, warum Ivo nach zwei Jahren das Thema erneut aufgegriffen hatte, sich aber jetzt nur auf ein Land, auf Georgien, und vor allem auf einen Menschen dort konzentrierte.
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