Mein Sanfter Zwilling
Menschen, einzelne Personen, wenn es keine Diktatoren und Weltveränderer waren, interessierten Ivo sonst wenig. Ihn interessierten Massen und historische Konflikte, er sah die Dinge nie losgelöst, sondern immer im geschichtlichen Zusammenhang, immer im zeitlichen Rahmen, immer im Kontext des Weltgeschehens. Deswegen wunderte mich seine Fixierung auf den Vollbärtigen, der weder ein richtiger Politiker noch ein richtiger Künstler zu sein schien. Der weder als Opfer noch als Täter gelten konnte. Ivo liebte die Radikalität, radikale Sichten, radikale Einstellungen, Meinungen. Und bei dem Mann schien er, nach seinen Notizen und Eintragungen zu urteilen, nur Fragen zu haben, keine eindeutige Haltung, die er hätte vertreten können.
Auch die Interviews, die er mit dem Vollbärtigen vor zwei Jahren durchgeführt hatte, ließen keine Radikalität vermuten. Sie waren episch, berichtend, sie bezogen keine klare Position, übten Regimekritik, aber setzten sich kaum detailliert mit der sozialistischen Vergangenheit auseinander. Da war nichts Neues, nichts, was Ivo hätte anziehen oder überraschen können.
Ich machte mir einen Espresso und kramte weiter. Kriegsaufnahmen. Die brutalen, dabei schon alltäglich gewordenen Bilder von Verwundeten, Toten, Flüchtlingen, Kindern, die verängstigt, irritiert in die Kamera blickten. Was interessierte ihn an diesem Mann, und warum wollte er, dass ich dorthin fuhr?
Mein Kopf schien zu explodieren, doch ich konnte nicht aufhören. Jenseits meiner krankhaften Manie, die den Namen Ivo trug, erwachte in mir etwas, was ich schon längst vergessen glaubte, etwas, was mich früher dazu getrieben hatte, stundenlang zu tippen, stundenlang irgendjemandem hinterherzutelefonieren und Stunden in der Bücherei zu sitzen. Vielleicht war es ein Urtrieb, den ich von meinem Vater mitbekommen hatte, ein Urtrieb, den er Leni, mir und Ivo mitgegeben hatte. Ein Urtrieb, der vielleicht dem Wunsch entsprang zu verstehen, wo es nichts zu verstehen gab, wo menschliches Verständnis versagte.
Ich hatte den Trieb lange nicht mehr verspürt. Seitdem ich mich damit zufriedengegeben hatte, für das Mittelmaß Mittelmaß zu schreiben, das niemanden aufregen und niemanden sonderlich traurig oder froh stimmen würde. Brav die Neutralität wahrend.
Im Morgengrauen schlief ich auf der Couch ein. Zugedeckt von Ivos papierener Hinterlassenschaft.
16.
Ich hatte in jenem Sommer ein Zimmer in einer WG gefunden, mit einem Mann zusammen, der sich ganz dem Nichtstun verschrieben hatte, und einer Frau, die Kakteen züchtete, Hasch anbaute und unbedingt noch Geologie studieren wollte, obwohl sie schon siebenunddreißig war.
Ich studierte und verbrachte die meiste Zeit in Bibliotheken oder in der improvisierten Redaktion unseres Blattes. Ab und zu ging ich zu Abi und kümmerte mich um Xerxes, aber immer dann, wenn Abi nicht da war, so dass ich ihm nie über den Weg lief, den Schlüssel immer unter der Fußmatte hinterlassend und hervorholend.
Ich lernte ein paar Frauen kennen, mit denen ich ausgehen, tanzen und über Männer sprechen konnte, doch lenkte mich nichts so sehr ab wie meine Bücher und meine Arbeit. Ich schrieb und unterhielt mich stundenlang mit meinem Vater, mit dem ich mich jedes Wochenende in der Stadt zum Essen verabredete.
Tulja erwähnte seit dem Tag, an dem ich nackt an ihr vorbeispaziert war, mit keinem Wort mehr den Vorfall und unser Gespräch, was mir nur recht war.
Und Ivo hatte sein Studium abgebrochen und war nach Berlin gezogen, was ich von Leni erfuhr, die in der Zeit ihre esoterische Phase durchlebte und im Sommer zu Meditationskursen nach Indien fuhr. Im gleichen Jahr machte er ein Praktikum in New York, bei irgendeiner sehr wichtigen Zeitung, und Gesi schrieb aus Amerika begeisterte, Ivo über den Klee lobende Briefe.
Manchmal fragte ich mich, ob diese Lobeshymnen auf Ivo, zu denen sich manche unserer Familienmitglieder so oft verpflichtet fühlten, etwas damit zu tun hatten, dass sie Angst hatten, Ivo könnte eines Tages sich nicht beachtet, nicht genug geliebt fühlen und anfangen, um sich zu schlagen, und somit unser Kartenhaus zum Einstürzen bringen.
Es dauerte über ein halbes Jahr, bis ich ihn wiedersah. Es war Weihnachten, und Tulja hatte darauf beharrt, dass wir alle zu ihr fuhren, sonst würde sie uns allen unsere Familienmitgliederrechte aberkennen, drohte sie. Ivo reiste an. Leni reiste an, und ich fuhr mit Vater und seiner damals neuen Flamme, einer wenig erfolgreichen
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