Mein Sanfter Zwilling
machte mich aggressiv; es machte keinen Sinn, was er sagte, wo in der Geschichte war mein Platz, meine Rolle? Ich wählte auf meinem Handy Marks Nummer. Er ging nicht dran. Ich schrieb ihm eine SMS:
– Bitte sag Theo, dass ich ihn liebe und dass ich bald zurück bin. Du musst mir nicht verzeihen. Du musst gar nichts mehr. Ich kann mir selbst nicht verzeihen. Aber bitte bring Theo nicht dazu, dass er mich hasst. Sag ihm, ich sei auf einer Dienstreise. Bitte.
Ivo kam herein und setzte sich auf die Bettkante. Ich rutschte zur Seite, die Vorstellung, dass er mich berühren könnte, machte mich unsicher, aber ich konnte es mir nicht leisten, ich konnte mir nicht erlauben, auch nur für wenige Minuten meine Wut und meine Schuld zu vergessen. Die beiden Gefühle schienen mir das Letzte zu sein, an das ich mich klammern konnte, das mir einen Halt gab.
– Ich muss mich erinnern. Unter allen Umständen. Und du bist der Mensch, der die Lücken, die Erinnerungslücken schließen kann. Es ist vielleicht verantwortungslos von mir, dich da rauszureißen, aber glaub mir, ich denke dabei auch an dich, das verstehst du noch nicht, aber ich bin mir sicher, wenn du mir die Chance gibst, dann wirst du es begreifen.
Ich sah ihn an und nickte. Egal, wie sehr er mich verletzte, ich würde bleiben. Ich hörte in seiner Stimme den seltenen Ton, der schutzlos war und nicht dem starken, sonnengeküssten, erfolgreichen Ivo gehörte, den er die meiste Zeit seines Lebens spielte.
Hätte ich nur damals mehr in seine Worte hineingehört und versucht, sie zu dechiffrieren. Aber ich klammerte mich an meinen Schmerz, der mich blind machte und mich gleichzeitig schützte.
Wir fuhren mit dem Wagen durch die Stadt. Ein Ort, als wäre er verloren zwischen irgendwas Vergangenem und etwas, was noch kommen sollte, was noch nicht eingetreten war. Menschen, die laut in einer archaisch anmutenden Sprache sprachen und wild gestikulierten, Autos, die wie verrückt durch die schmalen Straßen rasten, als wären sie auf einer Rennbahn, Kinder, die alle mit Bällen spielten und ausgehöhlte Stühle an den Häuserwänden befestigt hatten, um Basketballkörbe zu simulieren. Katzen und Hunde, die in Scharen herumlungerten. Pflanzen, die alles überwucherten, und Früchte, die an jedem Baum zwischen aufgehängter Wäsche wuchsen.
Er drehte das Radio auf, und ich lauschte auf die merkwürdige, harte Sprache. Das belustigte mich – als wäre ich in eine andere Zeit versetzt worden. Nach und nach löste sich meine Gereiztheit, und ich empfand so etwas wie Erleichterung, eine jugendliche Euphorie.
Wir hielten im südlichen Teil der Altstadt und marschierten dann zu Fuß weiter. Der grünliche, breite Fluss streckte sich zwischen herben, schroffen Felsen aus, auf denen Häuser und Hotels gebaut waren. Aus den kleinen Cafés und Kneipen an den Pflastersteinstraßen drangen laute Musik und Besteckgeklapper.
Wir betraten ein Lokal, das mit winzigen Holztischen ausgestattet war. Während Ivo irgendwelche Gerichte bestellte, die ich alle nicht kannte, stürzte ich mich auf eine Karaffe Weißwein, die gleich gebracht worden war. Ich stürzte mich ausgehungert auf das unbekannte Essen, alles schmeckte hervorragend, was meine Laune erheblich steigerte. Ivo erzählte von dem Land, vom ersten Mal, als er hier war. Seine Stimme klang aufgeregt. Ich hörte ihm zu und kam mir vor wie ein kleines Kind, das gebannt den Märchen lauscht.
Am frühen Abend setzten wir uns wieder in den Wagen und fuhren Richtung Norden. Ich fragte ihn nichts mehr und spähte nur aus dem Fenster. Lichter flackerten, und der Fluss spiegelte die vorbeifahrenden Autos. Ich verlor mich so gern in den Lichtern, in dem grünlichen Wasser, in den fremden Gerüchen, in Ivo.
– Weißt du, setzte ich an und zündete mir eine von seinen Lucky Strikes an.
– Hm, sagte er gedankenversunken und bog nach links, während der Fahrer hinter uns laut hupte.
– Ich habe mir gerade vorgestellt, was gewesen wäre, wenn wir damals zusammengeblieben wären, du und ich. Und wenn ich Theo von dir bekommen hätte.
Sein Gesicht blieb konzentriert, als hätte er nicht zugehört, er hielt sich weiter am Lenkrad fest. Ich bereute es, diesen Satz gesagt zu haben.
Ich hatte mit Ivo nie über Kinder gesprochen. Als wir versuchten, einen gemeinsamen Weg zu gehen, waren Kinder das Letzte, über das wir sprechen konnten. Ich ging ohnehin davon aus, dass Ivo keine wollte.
– Wie kommst du jetzt darauf?, sagte er schließlich,
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