Mein Sanfter Zwilling
anscheinend gewaschen wurde. Was für eine Verschwendung, dachte ich.
Wir erklommen eine schmale Wendeltreppe, manche der hölzernen Stufen waren morsch oder schon durchgebrochen, so dass ich aufpassen musste, nicht stecken zu bleiben. Oben angekommen, passierten wir einen langen, mit alten Holzdielen ausgelegten Flur und landeten in einem unsanierten Altbau, mit hohen Decken und einem unversiegelten Parkettboden. Die Wohnung hatte breite Fenster und eine kleine Terrasse, von der aus man auf die aufwachende Stadt hinunterblickte. Ich empfand eine merkwürdige Verunsicherung bei diesem Anblick – die unzähligen Kirchturmspitzen, die dicht aneinandergebauten Holzbauten mit den verschnörkelten, bunten Balkonen davor, und die endlosen Reben, die sich um diese Balkone wanden. Ich wollte etwas fragen, aber ich merkte, dass meine Stimme versagte, ich war zu müde und zu erschlagen.
Ivo brachte mich in ein geräumiges, aber kaum möbliertes Zimmer, ein uraltes, vermutlich hundert Tonnen schweres Bett stand wie ein Thron in der Mitte. Ich streckte mich darauf aus und schlief augenblicklich ein. Ivo ließ mich allein.
Er hatte mich nicht zugedeckt.
Mein Herz flatterte, als ich am nächsten Morgen ins Bad ging, das mit zerkratzten orangefarbenen Kacheln ausgestattet war und mit einem vergoldeten Spiegel, der lose an die Wand gelehnt war. Alles schien so unpraktisch an diesem Ort, so verschwenderisch: von der Einrichtung bis zu den tröpfelnden Wasserhähnen und Klospülungen.
Ivo hatte mir ein Handtuch und eine Zahnbürste bereitgelegt. An der Wand hing ein alter Gasboiler, und ich musste erst eine Viertelstunde warten, bis das Wasser halbwegs warm war. Dann stellte ich mich in die vergilbte Badewanne. Das Wasser schien all meine Schwere schlagartig wegzuzaubern.
Er hatte Kaffee gemacht, in einer bräunlichen Kanne, auf dem Gasherd, hatte mit der Hand ein weiches, salziges Brot in Stücke gerissen. Er holte ein Glas Honig und ein großes Stück Käse, der in einer milchigen Flüssigkeit lag.
– Frühstück à la Géorgie, sagte er feierlich und lachte laut auf. Wir setzten uns an den runden Tisch, und ich stürzte mich auf das Brot, das noch warm war.
– Das Brot wird in einem Tonofen gebacken, der aussieht wie ein Loch in der Erde. Ein Feuer erhitzt den Ton. Der Brotteig wird dann an die erhitzten Wände geklebt. Das machen hier nur die Männer, sie beugen sich richtig in dieses Fegefeuer hinein, du denkst jedes Mal: Dass da nicht mal einer reinfällt. Und in ein paar Minuten ist dieses Brot fertig. Ich finde es jedenfalls fantastisch.
– Ja, es schmeckt gut.
– Verrückt mit dem Brot, oder? Ja, hier ist vieles verrückt. Okay, trink den Kaffee. Ich erzähl dir ein wenig. Ich weiß, du erwartest das von mir.
– Richtig. Also.
– Vor knapp fünf Jahren habe ich in New York Lado kennengelernt. Er lebte dort eine ganze Weile im Exil, ich traf ihn auf einer völlig absurden Veranstaltung, bei der es um politisches Asyl ging. Er hat einen Vortrag gehalten. Mit der Zeit habe ich mich mit ihm angefreundet. Später ist er nach Berlin gegangen, hat an der Uni ein paar Seminare gehalten, als Politologe, obwohl er Musiker ist. Und er hatte, also er hat einen Sohn, der ist vierzehn mittlerweile, an den ich mich irgendwie auch gewöhnt habe. Der Junge kam im hiesigen Bürgerkrieg auf die Welt, kurz bevor seine Mutter und seine Schwester gestorben sind. Ein super Junge, der Kleine.
– Was hat das mit dir oder mir zu tun, Ivo?
– Na ja, ich kann das nicht in zwei Sätze fassen, Stella. Die Dinge sind kompliziert.
– Erspar mir jetzt die Floskeln. Ich bin hierhergekommen, nicht weil ich Urlaub machen will oder mich um fremde Männer und Söhne kümmern, ich bin gerade dabei, meinen eigenen Mann und Sohn zu verlieren.
– Ich will dir nicht sagen, was zu tun ist. Ich bin ehrlich zu dir, Stella. All das hat was mit uns zu tun, ich kann es dir nicht allein mit Worten erklären, du musst es erleben, du musst ihn kennenlernen und du musst mir helfen, die Reportage fertigzukriegen. Es ist kein bezahlter Job, ich mache das alles auf eigene Rechnung.
– Und was hat das Ganze mit uns zu tun? Nichts, gar nichts.
– Das stimmt so nicht, glaube mir. Aber ich will, dass du es selber herausfindest, was das mit uns, mit dir zu tun hat.
Ich sprang auf und lief ins Schlafzimmer, legte mich aufs Bett und versteckte mein Gesicht im Kopfkissen. Es war ein Fehler gewesen, hierherzukommen. Ich hätte es wissen müssen. Ivos Gerede
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