Mein Sanfter Zwilling
schrecklich, dass es mir wehtut. Ich möchte dich nicht unglücklich machen. Sei mir nicht böse.«
Ich war aber böse. Ich war so böse, dass ich zwei Tage später Frank besuchte und aus seinem Badezimmerschrank den ganzen Vorrat an Schlaftabletten nahm, den er dort gehortet hatte. Ich war so böse, dass ich mich auszog, mich auf Vaters Bettseite legte, die Vorhänge zuzog und die Handvoll Pillen mit Wasser runterspülte.
Frank musste irgendwann die Tür aufgebrochen und einen Krankenwagen gerufen haben, und man spülte mir den Magen aus. Im Krankenhaus blieb ich unter Beobachtung, danach musste ich unterschreiben, eine Therapie zu machen, die ich dann auch ein Jahr lang machte und in der ich nichts preisgab, was ich nicht preisgeben wollte, in der ich schlicht und ergreifend log.
Frank rief Mutter an. Es war das erste Mal, dass er überhaupt mit ihr sprach, nach all den Jahren. Gesi kam nach Hamburg.
Mit Mutter fuhr ich dann zum Strand, wir fuhren aus der Stadt, saßen im Sand. Ein Sommer ohne Newark, der Sommer ohne James, der Sommer ohne teure Geschenke und falsche Fürsorge. Wir gingen in Läden, in Kinos, in Theater. Ich kaufte mir Bücher und begann wieder zu lesen, wie eine Wahnsinnige stürzte ich mich auf jedes Buch, egal, wie gut oder schlecht es war, ich las es in einem Atemzug.
Erst nachdem ich nach etlichen Wochen Gesi so weit hatte, dass sie mir wieder Selbstständigkeit zuerkannte, und ich sie zum Flughafen gebracht hatte, rief ich Tulja an und bedrängte sie, mir seinen Aufenthaltsort zu nennen. Tulja weigerte sich. Aber irgendwas in meiner Stimme muss sie dazu gebracht haben, mir seine Berliner Adresse zu geben.
Ich nahm den nächsten Zug und fuhr hin. Ich setzte mich in dem wunderschönen alten Hinterhof, in dem er lebte, auf eine Treppe, mit Kaffee und Zigaretten ausgerüstet, und wartete auf sein Kommen. Ich wartete fünf Stunden.
In der Dämmerung übersah er mich und ging an mir vorbei. Ich rief seinen Namen, und er drehte sich zu mir um. Sein Gesicht wirkte gealtert, traurig, wie in sich gekehrt. Er sagte nichts, forderte mich mit einer Geste auf, ihm zu folgen. Wir stiegen in die vierte Etage, in seine Wohnung, die fast leer war und nach Lavendel roch.
Ich setzte mich in die Küche, die mit einem Serviertisch und einem Kühlschrank ausgestattet war, und sah ihn an.
– Ich will dich nicht mehr sehen, sagte ich.
– Warum kommst du dann her?
– Nie mehr, hörst du? Wage es nicht, noch mal in meine Nähe zu kommen.
– Ja.
– Ich hasse dich.
– Okay.
– Das ist nicht okay. Ich hasse dich.
– Ja.
– Meide mich. Mach einen Bogen um mich. Wenn wir uns bei irgendwelchen verfickten Familienfesten doch über den Weg laufen, dann tu so, als wäre ich eine ferne Verwandte, und sprich mich nicht an und frag nicht einmal, wie es mir geht. Folge mir nicht auf die Veranda und setz dich am Tisch nicht an meine Seite. Wenn du mich auf der Straße siehst, dann …
– Okay. Okay …
– Und fass mich vor allem nie mehr an. Nie mehr!
– Bist du dir da wirklich sicher?
Er näherte sich mir. Ich sprang hoch und trat zurück.
– Ja, ich bin mir da wirklich sicher. So sicher, wie ich mir nie einer Sache war.
– Nun gut …
Er trat zurück und lehnte sich gegen die Wand.
– Ich bin nicht dein Spielzeug. Das war ich nie. Ich nehme mein Leben wieder zurück. Du hast damit nichts mehr zu tun.
Ich stand auf, nahm meine Handtasche und ging an ihm vorbei, so dass meine Schulter leicht seine streifte. Er blieb stehen. Als ich schon die Tür aufgemacht hatte und ins Treppenhaus trat, sagte er tonlos:
– Ich liebe dich.
Ich rannte die Treppen hinunter.
Das war das letzte Mal, dass ich Ivo sah, bis zu dem Morgen, an dem Tuljas Anruf mich weckte.
Mark kitzelte mich, und wir küssten uns im Taxi wie zwei Teenager. Mark lachte, so als hätte es die Wochen dazwischen nicht gegeben.
In unserer Wohnung angekommen, entkorkte er eine Flasche Wein, und wir tranken und tanzten weiter, aneinandergeschmiegt beschworen wir unsere Freude herauf. Ja, wir tanzten einen Ritualtanz für unser Glück.
Im Morgengrauen, als Mark mit einem Arm um meine Taille eingeschlafen war, setzte ich mich abrupt auf und rief:
– Ich muss!
Mark wachte auf und sah schlaftrunken zu mir hoch.
– Ich muss los.
– Wovon redest du Stella?
– Ich muss einfach, Mark. Ich kann nicht anders. Ich werde alles zerstören, auch all das, was gut ist, wenn ich nicht gehe. Nur für kurze Zeit. Aber ich muss.
– Du
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