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Mein Sanfter Zwilling

Mein Sanfter Zwilling

Titel: Mein Sanfter Zwilling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nino Haratischwili
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im riesengroßen Bett und starrte zur Decke. Das Fenster war offen, eine schwache, aber erfrischende Brise wehte von draußen herein. Der weiße Vorhang tänzelte im Wind. Aus der Ferne hörte ich Geräusche, wie von einem laufenden Fernsehgerät, aus dem Bad hallten Ivos Schritte. Ich hörte die Autos vorbeifahren, der Wein hatte meine Sinne vernebelt, ich fühlte mich frei. Ich suchte in mir die Grenzen zwischen Vergangenheit und Zukunft. Ich suchte die Schnittstellen. Ich suchte mich oder meinen fehlenden Teil. Ich suchte meine Worte in seinen. Ich suchte mein Gesicht in seinem.
    Er tapste barfuß über den Flur in Richtung des kleinen Dachgeschosszimmers, in dem er arbeitete und auch schlafen wollte für die Zeit meines Hierseins. Von dort aus hatte man einen grandiosen Blick auf Tiflis. Auf die verschollene Stadt, deren Existenz man nur wahrnahm, wenn man sich ihr näherte, weil sie auf der Weltkarte vergessen worden schien, die aber, war man hier angekommen, unverzichtbar erschien, da sie die Welten festzuhalten, aneinander zu binden schien. Denn sie schluckte Orient und Okzident, ohne sich zu vergiften. Sie transportierte das Öl für die anderen und ließ das Wasser, das sie hatte, einfach so verströmen, über all die Teppiche und alle Pflanzen und all den Schmutz, der sich hier ansammelte.
    Ich rief ihn zu mir. Er kam und setzte sich zu mir auf meine Bettkante.
    – Versprochen, dass du mich nicht berührst?
    – Versprochen.
    – Ich will, dass wir es schaffen.
    – Ja.
    – Ich habe es nicht verdient, von dir so sehr gestraft zu werden. Ich habe etwas Schreckliches getan, damals, aber …
    – Pst.
    – Nein, es ist so. Ich habe etwas Schreckliches getan, und weder du noch ich sind je darüber hinweggekommen. Wir beide haben damals etwas Schreckliches getan. Aber wir waren Kinder, Ivo. Wir waren doch bloß Kinder?! Was hätten wir tun können? Wenn du mir hilfst, dann helfe ich dir, egal wobei, womit, wie. Ich bin da.

19.
    Nach dem gefühlt zehnten Versuch durfte ich Theo sprechen. Er schien wütend auf mich und gereizt und behandelte mich mit Strenge, blieb dabei aber höflich, die Erziehung des Vaters. Ich schwor meinem Sohn, bald wieder da zu sein. Ich sagte ihm, wie sehr ich ihn liebhabe, sagte ihm, dass er mir mehr bedeutete als alles auf der Welt. Er sagte, dass er von seinen Großeltern jetzt seinen Hund bekommen werde, er sei schon bestellt, er müsse nur noch auf die Welt kommen.
    – Theo?, fragte ich ihn zum Schluss. Kann ich dich um etwas bitten?
    – Was denn?, fragte er in Marks Ton: nie sofort ein Ja oder Nein, immer alles vorsichtig abwägend. Er machte das nicht bewusst, das war mir klar, aber ich konnte nichts daran ändern, seinen Vater und seinen Ton durch ihn zu hören.
    – Kümmerst du dich wieder um die Möhren?
    – Was für Möhren?
    – Du weißt schon, die Möhren aus Omas Kalender.
    – Okay.
    – Damit würdest du mir eine riesige Freude machen. Wenn du ein paar aufhebst, bis ich wieder da bin.
    – Okay.
    – Ich liebe dich, mein Großer.
    – Ich dich auch. Komm bald wieder, Tschüüüs.
    Dann grenzenlose Leere. Das Freizeichen in der Leitung, das das Tschüüüs von Theo noch länger und endloser machte. Ich horchte ihm trotzdem nach, hielt es trotzdem aus.
    Die Tage waren voll an Überforderung, Freude, Aufregung, Lebenslust und Schwermut. Das ganze Land schien eine endlose Verschwendung an Liebe zu sein, an Geld, das nicht da war, an Wärme, an allem, woran es mangelte. Sobald es da war, wurde es weggegeben, verschenkt, ausgebeutet. Nichts schien sich hier zu halten.
    Ich lernte die Straßen kennen, ich nahm das Auto, immer in der Angst, einen Unfall zu bauen, weil keiner sich an irgendeine existierende oder nicht existierende Straßenverkehrsordnung hielt. Ich traf mich mit Lado, während Ivo in seinen Notizen und Videos kramte, während er tippte und Material sammelte. Ich wusste nicht, wonach ich suchte, und ich freundete mich mit Buba an, der manchmal mein Haar berührte oder daran roch und dann schamhaft wegsah. Der unglaublich viel aß und viel Musik machte, der stur war und geschickt, wenn er etwas haben wollte. Ich ging mit ihm spazieren, und ich kaufte uns Eis. Er zeigte mir die heimlichen Orte der Stadt, die er liebte. Die Stadt hinter der Stadt.
    Wir gingen zum Friedhof hoch über Tiflis, der den Helden und den Größen der Nation gehörte, neben einer Kirche, die über die ganze Stadt blickte. Da war es ruhig, so ruhig wie nirgends sonst. Wir setzten uns in

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