Mein Sanfter Zwilling
genau die Frage stellen sollte: Wie konnte sie Liebe heißen, wenn sie andere verletzte, ausschloss, vergessen ließ, statt sich zu erinnern? Wie konnte sie Liebe heißen, wenn mein Rücken die Narben brauchte, um zu wissen, dass er geliebt wurde? Wie konnte ich das, was ich empfand, als Liebe bezeichnen, wenn ich andere Menschen missbrauchte, um zu vergessen, wenn ich bereit war, dem Wesen, dem ich das Leben geschenkt hatte, das zu entziehen, was ihm unentbehrlich war: mich?
Ich stand da, und ich schämte mich, unfähig, wegzugehen, paralysiert von dem Bild, gebannt, gefangen, als wäre ich wieder sechs, als würde Ivo sich am Ast festhaltend mir die Sicht freigeben. Ich sah, wie Lado sie küsste und nicht sie meinte, sie übersah, nur ihre Lippen brauchte für den Kuss, nur für den Kuss. Ich hielt den Atem an und krampfte die Hände zu Fäusten.
Wie konnte ich das als Liebe bezeichnen, was mich so einsam machte, so schutzlos, so unsicher, so egoistisch, was mir mein Ich entzog? Wie konnte ich hier stehen und fremden Menschen beim Liebesspiel zusehen? Wie konnte ich meinem Vater verzeihen, und wie konnte Ivo mir verzeihen?
Wie konnte mir mein Sohn verzeihen? Die Schuld schien allgegenwärtig. Die Schuld, auch wenn man sich ihrer nicht bewusst war.
Die bunten Fäden der Welt.
Die Geschichten, verwoben zu einem Ganzen, das Schmerz hieß. Mein Muster war nur das Fortsetzen des Musters meines Vaters, und Ivos Muster das Fortsetzen des Musters seiner Mutter. Und ich würde Theo meinen roten Faden hinterlassen. Das durfte ich nicht. Der Gedanke ließ mich aufschrecken, und ich legte die Hand auf die Lippen, damit ich nicht aufschrie.
Und auf einmal wurde mir schlagartig klar, dass Ivo hier seine eigene Geschichte suchte, jene, die er umschreiben wollte …
20.
Wir fuhren die staubige Landstraße entlang. Buba zog immer wieder einen himbeerroten Kaugummi aus dem Mund und wickelte ihn um den Zeigefinger. Lado fuhr, Ivo saß daneben und legte eine CD nach der anderen ein. Salome saß auf der anderen Seite des Hintersitzes und starrte in die Landschaft. Unser Ziel war ein kleines Dorf am Meer, wo Salome ein Apartment gemietet hatte. Lado erzählte Geschichten aus seiner Kindheit, die alle etwas mit dem Meer zu tun hatten, und Buba stellte immer mehr und mehr Fragen. Er wollte alles wissen aus der Vergangenheit, die ihm erspart geblieben oder nicht vergönnt gewesen war. Ivo schwärmte von einer CD, die Lado mit georgischen Musikern aufnehmen wollte. Salome blieb schweigsam. Ich fotografierte die im Schnelldurchlauf vorbeiziehende grün zugewachsene Landschaft. Buba machte Pläne für unseren einwöchigen Aufenthalt und schlug einen Schwimmwettkampf vor.
– Die zwei sind an der Nordsee groß geworden, da ist es kalt. Daher vermute ich, dass sie sehr gut schwimmen können, also denk nach, was das heißt, Buba, sagte Lado, und Ivo musste lachen.
– Seid ihr zusammen groß geworden?, fragte Buba. Ich wandte mein Gesicht ab und wartete darauf, dass Ivo etwas sagte. Er sagte aber nichts.
– Ja. Sind wir, sagte ich schließlich und hoffte, Buba würde nicht weiter nachfragen.
– Nachbarn?
– Nein, wir wohnten in einer Familie.
– Seid ihr verwandt?
– Ivo ist mein Adoptivbruder.
– Was heißt Adoptivbruder?
– Das heißt, dass Stellas Eltern Ivo bei sich aufgenommen haben, erklärte Salome, der das Ganze unangenehm zu werden schien.
– Aber ihr seid doch so was wie zusammen, oder?
– Buba, lass das jetzt, mischte sich Lado ein.
– Nein, schon gut, sagte auf einmal Ivo und drehte sich zu uns um. Ja, das stimmt schon. Wir sind so was wie zusammen. Wir kennen uns, seit wir sehr, sehr klein waren, Stella und ich, und wir haben uns als Kinder schon gemocht.
Für das Wort »gemocht« hätte ich Ivo am liebsten eine Ohrfeige verpasst.
– Wir sind nicht so was wie zusammen , Buba, sagte ich und versuchte meinen Unmut zu verbergen, streckte störrisch meinen Kopf aus dem Fenster in den Fahrtwind.
Die Straßen in die nördlichen Dörfer waren schlecht und steil und der Ausblick gigantisch. Ich konnte auf einmal verstehen, warum die Menschen in diesem Land solch eine Gleichgültigkeit dem Alltag gegenüber an den Tag legten und sich in allem verloren, was Genuss versprach. Nach fünf Stunden holpriger Fahrt kamen wir an: ein kleines Ziegelsteinhaus mit Garten und einem Schaukelstuhl, der mich an Niendorf erinnerte. Es waren nur ein paar Schritte bis zum Meer, und hinter dem Haus erstreckten sich grüne,
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