Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Mein schwacher Wille geschehe

Titel: Mein schwacher Wille geschehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Nutt
Vom Netzwerk:
Mensch das wahrhaft Gute nicht klar erkennt. Er bedarf letztlich Gottes Gnade, um das tun zu können, was er will.
    Philosophiegeschichtlich ist Augustinus’ Problem ein alter Hut. »Obwohl der Mensch häufig vom Schlechten erkennt, dass es schlecht ist«, sagt Sokrates in Platons
Protagoras
, »führt er es dennoch aus.« Im weiteren Verlauf des Dialogs versucht Sokrates, sich das so klar beschriebene Problem wieder vom Hals zu schaffen, indem er bestreitet, dass es die Sache überhaupt gibt. Sokrates wusste noch nicht, meint der Frankfurter Philosoph Martin Seel, »dass die philosophische Leugnung eines Problems die sicherste Methode ist, ihm zur Unsterblichkeit zu verhelfen.« Und so kam der Begriff »akrasia« in die Welt. Etymologisch leitet sich
akrasia
im Griechischen von dem Substantiv κρατος (
kratos,
»Stärke«) oder dem Infinitiv κρατεiν (
kratein
) her, wobei das Präfix α den folgenden Teil negiert.
    Der Mangel an geistiger Stärke und Standhaftigkeit scheint auf |82| Aristoteles einen starken Eindruck gemacht zu haben. Seine Überlegungen jedenfalls haben den Begriff der Akrasia am nachhaltigsten geprägt. Während jedoch Sokrates der Meinung war, dass nur Unwissenheit und Unbelehrbarkeit den Menschen davon abhalten können, das zu tun, was gut für ihn ist, bestreitet Aristoteles die hervorgehobene Bedeutung des Wissens um das wahrhaft Gute. Das Wissen, so der ausgesprochen lebenspraktisch veranlagte Denker Aristoteles, schützt nicht vor der Schwäche des Augenblicks. »Denn falls wir Wissen haben und dennoch nicht anwenden, sehen wir, dass das Haben etwas ganz anderes wird, sodass man in solchen Fällen auf gewisse Weise Wissen hat und auch nicht hat, zum Beispiel beim Schlafenden, Wahnsinnigen oder Betrunkenen. Gerade in einer solchen Verfassung sind aber diejenigen, die sich in Affekten befinden. Denn Zornesausbrüche, sexuelle Begierden und manches dieser Art verändern offensichtlich auch die körperliche Verfassung, und in einigen Menschen bewirken sie sogar Schübe von Wahn.« 12 Die Folgen dieser Unterscheidung sind beachtlich. Für den Zustand des Außer-sich-Seins können vor Gericht mildernde Umstände geltend gemacht werden, obwohl das Rätsel bleibt, dass einer nicht voll zurechnungsfähig sein soll, auch wenn er klare und richtige Dinge von sich gibt. Das gilt über juristische Sachverhalte hinaus. Echtes Wissen, folgert Aristoteles, bedarf einer Art Inkubationszeit. »Dass sie Sätze sagen, die aus Wissen hervorgehen, beweist gar nichts. Denn auch diejenigen, die sich in den Affekten befinden, sagen mathematische Beweise oder Verse des Empedokles auf. Und auch diejenigen, die etwas erst zu lernen beginnen, reihen Sätze aneinander, haben aber noch kein Wissen. Denn das Wissen muss mit dem Menschen verwachsen; das aber braucht Zeit. Man muss also annehmen, dass die Unbeherrschten in der Weise sprechen, wie es Schauspieler tun.« 13 Was wollen die alle von mir, fragt Klaus Maria Brandauer, als Mephisto durchs Berliner Olympiastadion der Nazis hetzend: Ich bin doch bloß Schauspieler. |83| Das Wissen das man aufsagen kann, ist noch lange keines, über das man verfügt.
    Aristoteles bietet seine ganze Argumentationskunst auf, um zu zeigen, dass Wissen allein nicht davor schützt, das als schädlich Erkannte zu lassen. Er destabilisiert, wenn man so will, den sokratischen Wissensbegriff und führt die Kategorie des Maßvollen ein. Maßvoll bedeutet gerade nicht die Orientierung an einer exakt messbaren Einheit, sondern redet einer flexiblen Beurteilung und der Relativität das Wort. Aristoteles verhilft den Umständen zu ihrem Recht. Weil das Glas halb leer ist, kann gern noch einmal nachgeschenkt werden. Und so wohnt auch dem Begriffspaar beherrscht/unbeherrscht eine Ambivalenz inne. Unter den Unbeherrschten sind, so Aristoteles, zum Beispiel diejenigen, die leicht außer sich geraten besser als diejenigen, die überlegt haben, aber nicht beim Ergebnis der Überlegungen bleiben. Das Schlechte, das im Affekt getan wird, ist eher verzeihbar als das vorsätzlich Schlechte. Die Vielfalt der lasterhaften Erscheinungen ist nicht schön, aber aushaltbar. Für Aristoteles gibt es keinen Grund, Laster kategorisch auszugrenzen. Wie die Tugend kein höchstes Gut, sondern eher eine mittlere Handlungsorientierung darstellt, so ist auch das Laster nicht das Schlechte an sich. Es soll nach Kräften vermieden werden, und selbst wenn man sich seinem Bann nicht hat entziehen können, bestehen

Weitere Kostenlose Bücher