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Mein schwacher Wille geschehe

Titel: Mein schwacher Wille geschehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Nutt
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Romane und |79| dessen ausgeprägte Schreibblockade erschienen. Ohne Zweifel litt Koeppen über Jahrzehnte an Depressionen. Das jüngste Indiz für diese Diagnose ist ein 2008 erschienener Briefwechsel zwischen Koeppen und seiner alkoholkranken Frau Marion, der zusätzliche Einblicke in die psychische Disposition des Autors gewährt. 10 Es spricht einiges dafür, dass die Schreibblockade Koeppens eher Ventil und Ausdruck seines psychischen Leidens denn dessen Ursache war. Diese Art der Willensschwäche, das Unvermögen, den Roman zustande zu bringen, war seine Art, seinem seelischen Dilemma eine Stimme zu geben. In dem Verleger Siegfried Unseld fand Koeppen den idealen Partner. Er lieh ihm in lebenslanger Loyalität sein Ohr für die unsagbaren Konflikte. In diesem Sinne ist Willensschwäche weniger Starre, Verweigerung und Aufschub, sondern ein bis zur Verzweiflung gehender Artikulationsversuch. Unsere kleinen Marotten, dies oder das lieber zu lassen, erzählen Geschichten davon.
    Tatsächlich ist der Schriftsteller Koeppen nie untätig gewesen. Sein nachgelassenes Spätwerk besteht aus zahlreichen Romananfängen und Fragmenten, immer wieder hat er sich an dem von der literarischen Welt und seinem Verleger Unseld erhofften Roman versucht. Fertig gestellt hat er ihn allerdings nie. Ein letzter Brief Koeppens an Unseld ist vom 14. August 1995 datiert. Noch einmal greift er darin, ein paar Monate vor seinem Tod, das Lebensthema der gemeinsamen Jahre auf.
    »Lieber Siegfried, ich werde dieses Buch und auch andere Bücher fertig schreiben. Lass mich das schreiben, störe mich nicht. Immer wenn ich höre, dass Du über den Ozean fährst, denke ich, dass ich mit Dir fliegen möchte.«

|80| Exkurs: Akrasia
    »Mit seiner Haltung zur Angst entscheidet das Selbst zugleich über seine Haltung zum Leben.«
    Wilhelm Schmid
    Wenn am 3. Januar die Zigarette wie von Geisterhand entzündet wieder glimmt und das Projekt »Besserer Mensch« vertagt werden musste, steigt vorübergehend ein flaues Gefühl in der Magengegend auf. Man fühlt sich nicht gut und man weiß, dass man selbst der Urheber dieses Unwohlseins ist. Das macht die Sache nicht besser. Man hat es nicht so gewollt, aber genau so ist es gekommen. Dabei sind es nicht nur die großen Fragen des Lebens, bei denen einem das eigene Tun ein Schnippchen schlägt. Hier anrufen, dort etwas abholen. Keine große Sache. Und doch verweigern sich in der gefragten Minute Körper und Bewusstsein als Erfüllungsorgan. Meist ist fast nichts gewesen. Keine Ursache. Die Unterlassung ergab sich einfach so. Manchmal fällt es nicht einmal auf. Man könnte, wenn man es müsste, das eigene Tun kaum erklären. Ich habe mir vorgenommen, an der nächsten Ecke links abzubiegen – und laufe dann doch geradeaus. Keine Ahnung, warum. Links herum ist die Strecke kürzer, und nichts liegt auf dem Weg, was die Änderung der vorgefassten Absicht nahelegen würde. Und dann geht es doch einfach geradeaus. Es sind halt so Launen.
    Aber selbst wenn den Paradoxien der Lebensführung die gebotene Aufmerksamkeit und Konzentration entgegengebracht wird, droht die Lösung zu entgleiten. Augustinus jedenfalls hat es zu äußerst angestrengten Überlegungen getrieben. Wie kann es sein, fragte der Kirchenlehrer, dass der Geist sich Befehle gibt, die er dann nicht befolgt? Augustinus hat sich dabei nicht lange an |81| kleinen Versäumnissen und gedanklichen Absenzen aufgehalten. Linksherum oder geradeaus? Was ist das für eine Frage? Der Kirchenmann ging direkt auf das Dilemma der gläubigen Existenz ein und fand es dort, wo es auf den Körper trifft. Anhand der sexuellen Begierde kommt er schließlich zu dem Ergebnis, dass der Geist zwei Arten des Willens aufzuweisen scheint: einen alten, fleischlichen (
voluntas carnalis
) und einen neuen, geistigen (
voluntas spiritualis
). Der Dualismus behagte Augustinus nicht und er grübelte weiter. »Aber es ist kein ganzer Wille, darum auch kein ganzer Befehl. Denn der Geist befiehlt nur insoweit, wie er will, und insoweit er es nicht will, geschieht auch nicht, was er befiehlt. Denn der Wille befiehlt, dass Wille sei, kein anderer als er selbst. Aber er befiehlt nicht voll und ganz, darum geschieht auch nicht, was er befiehlt. (...) Also sind es zwei Willen, denn der eine von ihnen ist nicht ganz, und was dem einen fehlt, das hat der andere.« 11 Die schwer zu ertragende Ambivalenz löst Augustinus zur Sünde hin auf. Das Gefangensein in der Sünde führt dazu, dass der

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