Mein schwacher Wille geschehe
Geld. Das bisherige Leben und die Möglichkeit, es ohne allzu gravierende Kurskorrekturen noch eine Weile fortsetzen zu können, stehen zur Disposition. In nur wenigen Sekunden ist seine schöne Strategie zur Erhöhung seines Dispositionskredits zusammengebrochen. Frau Westhoff bringt seiner Gewissheit, bald schon wieder auf die Füße zu kommen, nicht das nötige Vertrauen entgegen. Schon möglich, dass er ihr rhetorisch überlegen ist. In dieser Situation gibt es jedoch eine Faktenlage, in der das nicht zählt. Sie könne da leider gar nichts machen. Die Vorschriften. Frau Westhoff weicht seinem Blick aus und stiert noch einmal suchend auf das Ausgabentableau auf dem Computerbildschirm. »Sehen Sie«, sagt sie dann ganz sachlich: »Sie geben jeden Monat 200 Euro mehr aus, als Sie derzeit verdienen.« Die Bank müsse ihre Kunden schließlich vor Überschuldung schützen. In früheren Zeiten war man diesbezüglich möglicherweise etwas großzügiger. Aber heute? »Sie müssen auch mich verstehen.«
Jetzt ist Fantasie gefragt. Will man dem bisher geführten Leben keine ruppige Vollbremsung zumuten, bedarf es Verhandlungsgeschick, irgendeinen letzten Hoffnungsschimmer. »1 000 Euro. Wenn es nicht anders geht, nur für kurze Zeit«, sagt man dann, vor allem darum bemüht, unangenehmen Schweißausbruch zu vermeiden. In solchen Momenten ist selbst dem galantesten Charmeur guter Rat teuer. Frau Westhoff kennt alle Varianten hartnäckigen Insistierens. Da bleibt sie ganz kühl. Sie kann aus Erfahrung mit einiger Sicherheit vorausahnen, wer in solchen Situationen zu Ausrastern neigt oder bedröppelt von dannen schleicht. Letzteres kommt häufiger vor. »Ob Sie nicht doch eine Ausnahme machen könne? Bei einem so treuen Kunden?« Kaum ausgesprochen, weiß der Bittsteller um die Aussichtslosigkeit |106| seiner Lage. Alles, was er vorzutragen hat, klingt bereits zu sehr nach Defensive. Frau Westhoff will sehen, was sie tun kann. Aber es geht jetzt nur noch um einen würdevollen Abgang. Der Filialleiter schaut aus einem Glaskasten herüber, wendet dann aber den Blick ab und schüttelt den Kopf. So sieht die nonverbale Variante einer Demütigung im Geschäftsalltag aus. Die Bank, mit der man reden kann, wohnt hier nicht mehr. Die meisten Banken haben mit undurchsichtigen Immobiliengeschäften erheblich zur Finanzkrise beigetragen und den Ruf zerstört, den sie ihren Kunden noch immer vorzumachen versuchen. Die Banken und Kunden sind gleichermaßen vom Sparkapitalismus zum Kapitalismus auf Pump übergegangen. So jedenfalls sieht es der Soziologe Ralf Dahrendorf. Frau Westhoff sagt zu alldem nichts, und es wäre ein taktischer Fehler, ihr jetzt mit dem angeschlagenen Image der Banken zu kommen. Was sie noch anzubieten hat, ist eine neuerliche Umschuldung der bisher aufgelaufenen Überziehungssumme. Dann komme er wenigstens von den hohen Dispo-Zinsen herunter. Kreditkarten müssen natürlich abgegeben werden. »Und am besten lassen Sie sich einmal einen Termin bei einer Schuldnerberatung geben.«
Der nächste Schritt im wuchernden Dilemma hat lange vor der großen Wirtschaftskrise die Formate der alltäglichen Fernsehunterhaltung erreicht. Peter Zwegat kennt sich aus mit Leuten, die unsanft aus ihrem Ausgaben-Delirium erwachen. Er ist der Schuldnerberater des Fernsehsenders RTL, der mit seiner Doku-Soap »Raus aus den Schulden« auf das Unterhaltungspotenzial von Menschen setzt, die den Überblick über ihre Konten verloren haben und nun mit den Folgen ihres mangelhaften Krisenmanagements konfrontiert werden. Eine Zeit lang verlief das Leben nach dem Motto »Geld ist nicht alles«. Man hatte sich gut darin eingerichtet, alles ging leicht und war in Bewegung. Geld spielte keine Rolle, man hatte Kredit. Aber plötzlich macht sich auf penetrante Weise der Alltag bemerkbar. Mal hat der Mann die Frau |107| mit den Kindern sitzen lassen, mal ist der Traum vom eigenen kleinen Geschäft durch unzuverlässige Partner zum finanziellen Albtraum geworden. Oder es war das Kleingedruckte eines fast schon vergessenen Kaufvertrages, das nun ganz dick aufgetragen wird. Es gab ein Leben jenseits des Geldes, aber nun wird alles in lästigen kleinen Zahlen verbucht.
Vom sicheren Fernsehsessel aus kann das Publikum dabei zusehen, wie Leute aus der Nachbarschaft am Rande des Abgrunds navigieren. Naivität oder Pech, das unzureichende Gefühl für den richtigen Augenblick oder Schicksal? Nach dem Einsetzen der Krise ist schwer zu entscheiden, warum das
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