Mein schwacher Wille geschehe
Leben aus den Fugen geraten ist. Statt exzessiver Verschwendung waren es doch eher nur beiläufige Ausgaben, die das Fass zum Überlaufen gebracht haben. Manchmal geht einfach alles schief, und auf dramatische Weise wird der Zusammenhang von Schuld und Schulden evident. Haben die Betroffenen das nahende Desaster denn nicht vorhersehen können? Welche Mechanismen machen einen bloß so blind für das drohende Unheil? Wie konnte es nur so weit kommen?
Die Neigung, den Kopf vor den sich auftürmenden Lebenskosten in den Sand zu stecken, ist keine Erfindung der jüngsten Zeit. Die Folgen zu langsamer Reaktionen auf die Eruptionen, die den eigenen Lebensentwurf zu erschüttern vermögen, haben eine lange Geschichte. Einer ihrer Protagonisten ist Oblomow. Der Held von Iwan Gontscharows gleichnamigem Romanklassiker aus dem Jahr 1859 ist der Prototyp einer Haltung, der alles gleichgültig zu sein scheint. Er ist der paradigmatische Held eines untätigen Lebens. Alles geht ihm zu schnell, nichts hat er im Griff, und er trachtet auch nicht danach, seinem Leben eine Wendung zu geben. Dass es vergeht, ist allein schon eine Genugtuung. Es käme ihm unsinnig vor, den Lauf der Dinge durch eigenes Zutun zu beeinflussen. Oblomow ist kein Anarchist, der dem Geschehen interessiert oder lustvoll zusieht, als ginge es um jemand anderen. |108| Er leidet durchaus an seiner Existenz, aber fast allem sieht er sich unweigerlich ausgeliefert. Das Naheliegende erscheint ihm nicht möglich, und das Leichte erweist sich meist als zu schwer oder müßig, es auf den Weg zu bringen. Jeder Zugang zu lebenspraktischen Fragen ist dem Gutsherrn Oblomow verschlossen. Der bloße Gedanke an die Überwindung seiner Trägheit entzieht ihm seine Kräfte, und seine Tage verbringt er schlafend oder sinnierend auf dem Diwan. Bisweilen fasst er Beschlüsse, oder ist wenigstens guter Dinge, Wegweisendes ins Auge zu fassen. Doch dann vergehen wieder die Tage, ohne dass eine Entscheidung getroffen wird. Immer wieder gibt es Gründe für einen Aufschub. Trägheit und Untätigkeit bestimmen auch seine äußere Erscheinung. Trotz eines regen Bedürfnisses nach Wohlgefallen lässt Oblomow sich gehen. Obwohl ihn Krankheiten und Gerstenkörner plagen, scheint ihm jeder Sinn für die Sorge um sich zu fehlen. Nicht einmal seine Dienerschaft hält er dazu an, sich wenigstens um das Nötigste zu kümmern. Oblomow vermag nicht einmal zu sagen, worin das Nötigste besteht.
So besorgniserregend sein Zustand auch sein mag, mangelt es Oblomow doch nicht an Gesellschaft oder gar Freundschaft. Er empfängt Besucher, und obwohl er regelmäßig Angebote auf gesellige Zusammenkünfte ausschlägt oder verstreichen lässt, werden stets neue Einladungen an ihn herangetragen. Man schätzt ihn als Sonderling und Kauz und verspricht sich ein wenig skurrile Unterhaltung. Oblomow, so viel ist sicher, gehört dazu. Und so sehr ihm das Leben entgleitet, hat er das Streben nach prinzipieller Ordnung nicht völlig aufgegeben. Immer wieder aber verwirft er Überlegungen, wie die Angelegenheiten auf dem Gut der Familie zu regeln seien, aus dem er seinen Unterhalt bezieht. Dabei ist es weder Prunksucht noch Verschwendungslust, die es Oblomow unmöglich machen, seiner finanziellen Angelegenheiten Herr zu werden. Das Leben über den Verhältnissen hat ihn im Griff, weil es nichts gibt, zu dem er sich ins Verhältnis setzt. Oblomow |109| ergibt sich einem Geschehen, dessen Plan er zu keinem Zeitpunkt durchblickt hatte.
Gontscharows Roman war als zeitgenössische Parodie auf eine dem Untergang geweihte parasitäre Klasse der russischen Gesellschaft gedeutet worden. Dabei war es keineswegs ein Leben in Saus und Braus, das das Leben des Romanhelden zu einer sprichwörtlichen Oblomowerei machte. Existenzsorgen, die er gegenüber seinem Freund Stolz äußert, kann er nicht mit selbstverantwortlichem Handeln begegnen. So gesehen ist Oblomow ein klinischer Fall. Über die zeithistorische Lesart hinaus dient er in der psychologischen Literatur inzwischen denn auch zur Beschreibung der Persönlichkeitsstruktur eines Neurotikers, der durch Apathie, Faulheit und Willensschwäche geprägt ist. Oblomow versagt weder in moralischer noch in intellektueller Hinsicht. Er ist nicht bösartig noch berechnend. Nichts bereitet ihm Vergnügen. So sehr er sich auch um die Reglung seiner Angelegenheiten und Finanzen bemüht, entziehen die Dinge sich doch immer wieder seiner Aufmerksamkeit. Das Geld wird arglos ausgegeben,
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