Mein skandaloeser Viscount
sehen.“
Victoria löste sich aus Cornelias Umarmung und hob wutentbrannt die Fäuste. „Was für ein Missverständnis?“ , schrie sie aufgebracht. „Dieser … dieser Ladenbesitzer behandelte mich nicht wie eine Kundin, sondern wie eine Straßenhure!“
„Schsch! Wir müssen fort von hier. Komm schnell!“ Cornelia zog sie durch die Gänge, bog um mehrere Ecken, bis sie unvermutet den vorderen Teil des Ladens erreichten. Dort öffnete sie schnell die Tür auf, schob Victoria zur Gondel und schlug die Tür hinter sich zu.
Benommen stieg Victoria ein und sank entkräftet auf die Polsterbank. „Ich habe diesen Unhold zu nichts ermutigt!“
Cornelia setzte sich mit besorgter Miene neben sie und sagte mit gedämpfter Stimme. „Ich glaube dir natürlich. Mir fehlen die Worte. Es ist unerhört. Aber das … das war nicht der Ladenbesitzer. Es war Marchese Casacalenda. Jonathan stand all die Jahre im Dienst der Casacalendas. Hat mein Bruder dir nichts davon erzählt?“
Victoria gefror das Blut in den Adern. Ein eisiger Schauer lief ihr über den Rücken, der Magen drohte sich ihr umzudrehen. Fassungslos schüttelte sie den Kopf. Gütiger Himmel.
„Jonathan wird den Vorfall regeln“, beharrte Cornelia. „Er hat sich in gutem Einvernehmen von dem marchese verabschiedet. Trotz seines schlechten Rufes. Er war immer gut zu uns. Immer. Wir verdanken ihm alles, was wir besitzen.“
Victoria wirbelte aufgebracht zu ihr herum, ihre Kehle brannte. „Dieser Mann …“, fauchte sie und bemühte sich, nicht zu schreien, „… hat nur Schandtaten verübt. Du denkst, er hat dich und deine Mutter davor bewahrt, in finanzielle Not zu geraten? Diese Bestie hat in Wahrheit Jonathans Leben zerstört. Er hat deinen Bruder gezwungen, die Hure seiner Frau zu sein. Was er mir in diesem Laden angetan hat, war nichts im Vergleich zu dem, was er Jonathan angetan hat. Und wenn du an meinen Worten zweifelst, sprich mit deinem Bruder darüber. Weil ich … ich …“ Sie hielt jäh inne. Um Himmels willen, sie hatte die Beherrschung verloren. Voller Entsetzen schlug sie sich eine zitternde Hand vor den Mund, konnte immer noch nicht fassen, was ihr soeben zugestoßen war. Warum war dieser furchtbare Mensch ausgerechnet in diesem Laden gewesen? Warum musste ihr das geschehen? Warum? Warum musste das Schicksal ihr und Jonathan so übel mitspielen?
Cornelia schluchzte auf und schlang die Arme um ihre Schwägerin. „Ich … ich begreife das nicht“, flüsterte sie. „Weshalb hat Jonathan nie darüber gesprochen? Wieso hat er mir das verschwiegen? Wir reden doch sonst über alles.“
Erst allmählich wurde Victoria klar, dass sie in ihrem maßlosen Zorn Jonathan verraten und ihr Versprechen, Cornelia nie etwas davon zu sagen, gebrochen hatte. „Verzeih, Cornelia. Ich … ich hätte nicht darüber sprechen dürfen. Bitte sage Jonathan nicht, dass ich es dir erzählt habe. Er wollte nicht, dass du es erfährst. Er hatte fest vor, seinen Dienst zu quittieren. Aber als dein Leben und das deiner Mutter durch den marchese bedroht waren, sah Jonathan keine andere Möglichkeit, euch zu schützen. Deshalb ertrug er die jahrelangen Demütigungen. Ich fühlte mich von diesem Kerl abgestoßen, lange bevor er sich an mir vergriffen hat.“
Cornelia weinte haltlos. „Ich habe es zugelassen. Ich … hätte mich weigern müssen. Mama behauptete, es sei die einzige Lösung. Und Jonathan … mein armer, armer Jonathan versicherte immer wieder, er werde gut behandelt und …“ Cornelia klammerte sich, von Weinkrämpfen geschüttelt, an Victoria. „Jonathan liebt alle Menschen zu sehr. Und dafür hasse ich ihn. Weil er ständig verletzt wird. Ausgerechnet er, der es immer nur gut mit allen meint. Das hat er nicht verdient. Nein, das verdient er nicht.“
Victoria festigte die Arme um Cornelia, der die Tränen über das Gesicht strömten. Ja, es stimmte: Jonathan liebte die Menschen zu sehr. Auch sie liebte er zu sehr.
Aber sie hatte sich eisern dagegen gewehrt, ihre Liebe einzugestehen, in der Überzeugung, sich vor einem weiteren schmerzlichen Verlust bewahren zu können. Doch damit hatte sie lediglich sich und Jonathan noch mehr Kummer bereitet. „Ich sorge dafür, dass Jonathan nie wieder leiden muss, Cornelia“, flüsterte sie mit bebender Stimme. „Das schwöre ich. Dafür sorge ich bis zu meinem letzten Atemzug.“
Die Frauen hielten einander stumm in den Armen, während die Gondel lautlos an den Palästen Venedigs
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