Mein Sommer nebenan (German Edition)
den Kopf an die Wand und betrachtet mich mit einem nachsichtigen, fast amüsierten Ausdruck. »Sollte deine erste Sorge nicht deiner Mutter gelten? Du weißt, wie hart sie schuftet. Wie viel ihr ihre Arbeit bedeutet. Könntest du wirklich damit leben, wenn du ihr das alles kaputt machst?«
Seine Stimme klingt jetzt fast einschmeichelnd. »Du, deine Mutter und ich. Wir sind die einzigen drei Menschen auf der Welt, die wissen, was passiert ist. Wenn du mit jemandem darüber redest, wenn du es diesen Leuten sagst, wird es bald bekannt werden. Es wird in sämtlichen Zeitungen stehen, in den Lokalnachrichten kommen – möglicherweise sogar zum landesweiten Skandal hochgekocht. Dein privilegiertes Leben wäre vorbei, darüber musst du dir im Klaren sein, Samantha. Du wärst keine Prinzessin mehr, sondern die Tochter einer Kriminellen. Willst du das?«
Mir steigt bittere Galle in der Kehle auf. »Ich bin keine Prinzessin.«
»Aber sicher bist du das«, entgegnet Clay ruhig und macht eine ausholende Geste, die unser ganzes Haus umfasst. »Du bist schon immer eine Prinzessin gewesen, deswegen bist du dir dieser Tatsache noch nicht einmal bewusst. Aber alles, was du hast – alles, was du bist –, verdankst du deiner Mutter. Dem Geld ihrer Familie und ihrer Hände Arbeit. Nette Art, es ihr zu danken.«
»Aber es ist doch ein Unfall gewesen, warum kann sie sich nicht einfach bei der Polizei melden, sich entschuldigen und erklären, dass sie unter Schock …«
»Fahrerflucht ist nicht zu entschuldigen, Samantha. Erst recht nicht, wenn man ein öffentliches Amt bekleidet. Das hat noch nicht einmal Ted Kennedy geschafft. Danach wäre das Leben deiner Mutter ruiniert. Und deines und das deiner Schwester gleich dazu. Und um es auf eine Ebene zu bringen, die du verstehst: Das wäre mit Sicherheit auch das Ende deiner kleinen Romanze. Ich kann mir nicht wirklich vorstellen, dass der junge Garrett weiterhin mit der Tochter der Frau zusammen sein wollen würde, die seinen Vater zum Krüppel gefahren hat.«
Die Worte kommen Clay so leicht über die Lippen, dass mir schaudert. Ich versuche mir vorzustellen, wie es wäre, wenn ich Jase alles erzählen würde, wie er mich ansehen würde … Ich denke an sein Gesicht in der Wartehalle im Krankenhaus, den verlorenen Ausdruck in seinen Augen. Er würde mich hassen. Was muss das für ein Mensch sein, der so etwas tut?, hat er gefragt. Soll ich darauf antworten: »Meine Mutter«?
Clays ruhiges, gefasstes Gesicht schimmert durch den Schleier der Tränen, die mir in die Augen getreten sind. Er zieht ein Stofftaschentuch aus der Hosentasche und reicht es mir.
»Das ist nicht das Ende der Welt, Samantha«, sagt er sanft. »Nur eine Verliebtheit, die einen Sommer dauert. Aber ich sage dir etwas, das ich im Laufe meines Lebens gelernt habe: Familie ist alles.«
Fahrerflucht wird im Bundesstaat Connecticut als ein schweres Vergehen angesehen, das mit bis zu zehn Jahren Haft und zehntausend Dollar Bußgeld geahndet wird. Ich starre auf den Eintrag, den ich im Netz gefunden habe. Die schwarz unterlegten Worte pochen gegen meine Augäpfel.
Was würde passieren, wenn Mom für zehn Jahre ins Gefängnis müsste? Tracy studiert die nächsten Jahre sowieso und wird danach woanders wohnen … irgendwo. Aber was würde aus mir werden? Wohin würde ich gehen? Zu meinem Vater, der uns schon vor meiner Geburt verlassen hat? Selbst wenn ich herausfinden würde, wo er jetzt wohnt, wäre er wohl nicht gerade begeistert, wenn plötzlich ein siebzehnjähriges Mädchen vor seiner Tür stehen und »Hi, Dad« sagen würde.
Jase war gestern Nacht bei Mr Garrett im Krankenhaus, um an seinem Bett Wache zu halten. Bevor ich einschlief, hat er mich angerufen, um mir zu sagen, dass er aus dem Koma erwacht ist. »Und er hat uns erkannt, Sam, er hat uns erkannt! Wenigstens was das angeht, können wir aufatmen. Aber jetzt ist bei ihm ein Blutgerinnsel im rechten Bein festgestellt worden, eine sogenannte ›tiefe Venenthrombose‹, was auch immer das heißen soll. Sie können ihm aber keine Medikamente dagegen geben, weil er sonst vielleicht eine Hirnblutung bekommen würde. Gut, dass wir Alice haben – ich würde kein Wort von dem verstehen, was die Ärzte so von sich geben. Ich kapiere nicht, warum die nicht normal mit uns reden können. Na ja, vielleicht weil es uns dann noch mehr Angst machen würde.«
Ich kann es ihm nicht sagen. Ich schaffe es einfach nicht. Was soll ich machen? Für sie da sein – das klingt
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