Mein Sommer nebenan (German Edition)
wirkt, Gedanken haben könnte, für die er sich schämen müsste.
»Du weißt, wie wütend es mich immer macht«, sagt er immer noch so leise, als wolle er selbst gar nicht hören, was er sagt, »wenn wildfremde Leute meinen, sie müssten meiner Mom Vorträge über Verhütung halten. Dem Typen, der letzte Woche den Stromgenerator im Laden repariert hat, hätte ich am liebsten eine reingehauen, als er auf Dads Frage, ob er die Rechnung vielleicht in Raten bezahlen kann, geantwortet hat, dass er sich das mal lieber vorher hätte überlegen sollen, was es finanziell bedeutet, so viele Kinder in die Welt zu setzen. Aber … aber manchmal denke ich dasselbe. Ich frage mich, warum meine Eltern nie … nie darüber nachgedacht haben, welche Einschränkungen es für jeden von uns bedeutet, wenn sie noch ein Kind bekommen. Ich hasse mich dafür. Aber ich kann nichts dagegen tun, dass ich so was denke.«
Ich nehme sein Gesicht in beide Hände. »Du darfst dich nicht hassen.«
»Aber ich will diese Gedanken nicht haben. Ich meine, auf wen würde ich verzichten wollen? Auf Harry? Patsy? Andy? Natürlich auf keinen von ihnen … aber … Samantha, ich bin erst das dritte Kind, das bald mit der Highschool fertig ist, und es ist jetzt schon kein Geld mehr fürs College da. Was soll denn sein, wenn George an der Reihe ist?«
Ich denke an Georges ernstes Gesicht, wenn er über seinen Tierbüchern sitzt, an all die Informationen und Fakten, mit denen sein Kopf zum Bersten gefüllt ist. »George ist sein eigenes kleines College«, sage ich. »Die Garrett University.«
Jase muss lächeln. »Stimmt. Aber … bei mir ist das was anderes. Verdammt, ich will aufs College. Ich will … gut genug sein.« Er hält kurz inne. »Gut genug für dich. Ich will keine schlechte Partie für dich sein, Samantha.«
»Das sind Gedanken, die meine Mutter vielleicht hat. Ich nicht.«
»Ich finde aber, dass deine Mutter in gewisser Weise recht hat«, entgegnet er heftig und fügt dann leise hinzu: »Ich meine, schau dich doch nur an, Samantha. Du bist zu gut für mich.«
»Ich bin bloß ein Mädchen, das das Glück hat, ein wohlbehütetes Leben zu führen und sich um nichts Sorgen machen zu müssen. Du bist zu gut für mich.« Plötzlich kommt mir ein schrecklicher Gedanke. »Oder nimmst du es mir übel, dass ich …?«
Er schnaubt. »Sei nicht albern, Sam. Warum sollte ich? Du hältst dein privilegiertes Leben nicht für selbstverständlich und bist dir nicht zu schade, hart zu arbeiten, obwohl du es gar nicht nötig hättest.« Er schweigt einen Moment. »Ich nehme es nicht einmal Tim mehr übel. Früher habe ich immer gedacht, ihm wäre überhaupt nicht klar, was er alles hat. Aber da hab ich ihn falsch eingeschätzt. Und seine Eltern sind wirklich eine Zumutung.«
»Ja, oder?« Mr Mason, der von nichts eine Ahnung hat und sein Leben im Lehnstuhl verschläft, und Mrs Mason mit ihrer penetranten Fröhlichkeit, ihren glücklich lächelnden Heile-Welt-Porzellanfigürchen und ihren unglücklichen Kindern. Ich denke an Nan. Wird sie wie ihre Mutter enden?
»Jase …?«, beginne ich zögernd. »Ich … ich habe ein bisschen Geld gespart. Ich brauche es nicht, aber ihr … Ich könnte …«
»Nein.« Seine Stimme klingt schroff. »Auf keinen Fall. Nein, wirklich nicht.«
Wir schweigen. Aber diesmal ist es kein gutes Schweigen. Es hängt zwischen uns wie eine dunkle Wolke. Ich ertrage es nicht. Um mich zu beschäftigen, fange ich an, Teller und Schalen aus dem Küchenschrank zu holen und nach Löffeln zu suchen.
Jase streckt sich und verschränkt dann die Hände hinterm Kopf. »Ich muss mir einfach immer wieder in Erinnerung rufen, wie viel Glück ich eigentlich habe. Meine Eltern sind vielleicht pleite und auch sonst sieht es im Moment ziemlich düster aus, aber sie sind großartige Menschen. Als wir klein waren, hat Alice Mom manchmal gefragt, ob wir reich wären, und Mom hat immer gesagt, dass wir mit all dem, worauf es wirklich ankommt, sehr reich beschenkt wären. Daran sollte ich denken.«
Es ist typisch Jase, dass er sich selbst Mut macht, indem er für das dankbar ist, was er hat.
Er kommt zu mir und hebt mit dem Zeigefinger mein Kinn an. »Küss mich, Sam, damit ich mir selbst verzeihen kann.«
»Da gibt es nichts zu verzeihen, Jase Garrett. Du bist auch nur ein Mensch.«
Es ist so einfach, ihm zu verzeihen. Er hat überhaupt nichts falsch gemacht. Im Gegensatz zu meiner Mutter … und zu mir. Als unsere Lippen sich treffen, spüre
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