Mein Sommer nebenan (German Edition)
in mir drängt danach, wieder aussteigen. Aber ich kann Nan nicht hängen lassen.
»Hey, wo fährst du denn hin? Das ist nicht der Weg zum Kino!« Nan beugt sich auf dem Beifahrersitz nach vorn.
»Kluges Kind. Scheiß aufs Kino, Schwesterherz. Das ist der Weg nach New Hampshire und zu Kisten voll zollfreiem Bacardi.«
Die Tachonadel passiert die Hundertzwanzig, während Tim immer wieder den Blick von der Straße nimmt, um durch seinen iPod zu scrollen, den Zigarettenanzünder reinzudrücken oder aus der Brusttasche seines Hemds die nächste Marlboro zu fischen. Dabei spüre ich jedes Mal, wie der Wagen leicht ins Schlingern gerät, bevor Tim ihn wieder in die Spur zurücklenkt. Ich betrachte Nans Profil. Ohne sich umzudrehen, streckt sie den Arm nach hinten und greift nach meiner Hand.
Nach ungefähr zwanzig Minuten Rasen, ständigem Überholen und Schlingern biegt Tim in die Einfahrt eines McDonald’s ab und bremst so abrupt, dass es Nan und mich in unseren Gurten nach vorn schleudert. Ich bin trotzdem erleichtert. Meine Finger sind schon ganz steif, weil ich mich die ganze Zeit krampfhaft am Türgriff festgehalten habe. Tim verschwindet im Lokal. Als er zurückkommt, wirkt er allerdings, als stünde er noch mehr neben sich als vorher. Seine Pupillen sind riesig und die kastanienbraunen Haare stehen ihm wild vom Kopf ab.
»Sieh ihn dir nur an«, flüstere ich Nan zu. »Du musst fahren.«
»Ich hab doch bloß eine vorläufige Fahrerlaubnis«, flüstert Nan zurück. »Wenn ich damit erwischt werde, sitzen wir richtig in der Tinte.«
So wie ich das sehe, sitzen wir schon richtig in der Tinte. Leider kann ich mich noch weniger ans Steuer setzen als Nan, weil ich noch nicht einmal eine vorläufige Fahrerlaubnis besitze. Mom hat sich bislang immer geweigert, mich den Führerschein machen zu lassen, weil ich angeblich noch zu jung bin und die meisten anderen Autofahrer ihrer Meinung nach sowieso vollkommen unfähig sind und damit eine zu große Gefahr für mich darstellen würden. Ich habe nie wirklich versucht, mit ihr darüber zu verhandeln, weil ich bisher meistens bei Tracy mitfahren konnte. Jetzt wünschte ich, ich hätte Moms Unterschrift auf dem Anmeldeformular für den Fahrkurs an der Schule gefälscht. Ob ich es einfach darauf ankommen lassen sollte? Mir fallen die Berichte über sechs- oder siebenjährige Kinder ein, von denen man manchmal hört, die in einer Notsituation über sich hinausgewachsen sind und es geschafft haben, ein schwer verletztes Familienmitglied ins Krankenhaus zu fahren. Aber dann sehe ich, dass der Wagen nicht mit Automatik fährt, sondern eine manuelle Gangschaltung hat. Damit hat sich die Entscheidung erledigt.
»Wir müssen uns schnell irgendwas einfallen lassen, Nan.«
»Ich weiß«, murmelt sie. Sie dreht sich in ihrem Sitz um und legt ihrem Bruder eine Hand auf die Schulter, als er vergeblich versucht, den Schlüssel ins Zündschloss zu stecken.
»Das bringt doch nichts, T. Das bisschen Geld, das du für die Steuer sparst, geht letztlich fürs Benzin drauf, das wir verbrauchen, um nach New Hampshire und wieder zurück zu kommen.«
»Als ob es mir nur darum gehen würde. Ich will verdammt noch mal was erleben!« Tim schafft es schließlich doch, den Wagen zu starten. Er drückt das Gaspedal durch und rast mit quietschenden Reifen vom Parkplatz. »Hast du denn nie das Bedürfnis, ein bisschen unvernünftig zu sein?«
Der Wagen wird immer schneller und schneller. Das hochtourige Dröhnen des Motors bringt die Sitze zum Vibrieren, als Tim auf der rechten Spur überholt. An Middletown sind wir schon vorbei und nähern uns Hartford. Ich schaue auf die Uhr. Zehn vor neun … Um elf muss ich zu Hause sein. Bis dahin sind wir noch nicht einmal in der Nähe von New Hampshire. Falls wir vorher nicht sowieso an einem Baum enden. Wieder klammere ich mich krampfhaft am Türgriff fest und spüre, wie sich auf meiner Stirn Schweißperlen bilden.
»Halt an, Tim. Halt an und lass uns raus«, rufe ich nach vorn. »Wir haben keine Lust, mit dir nach New Hampshire zu fahren.«
»Mach dich mal locker, Sammy.«
»Du wirst uns noch alle umbringen!«, sagt Nan verzweifelt.
»Ich wette, ihr würdet als Jungfrauen sterben. Fragt ihr euch da nicht, wofür ihr euch überhaupt aufgespart habt? Warum ihr euch nicht wenigstens einmal habt ficken lassen?«
»Tim! Du weißt, dass ich das Wort nicht ausstehen kann.«
Aber das stachelt ihn nur noch mehr an. »Welches Wort? Ohhhhh. Das Wort!« Er singt
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