Mein Sommer nebenan (German Edition)
das Wort als kleines Lied, mal laut, mal leise und dann rasend schnell mehrmals hintereinander. Minutenlang. Dann fängt er an, es zu der Melodie eines Militärmarschs zu singen. Ich muss ein hysterisches Lachen unterdrücken, als mein Blick auf den Tacho fällt – wir fahren mittlerweile hundertsechzig. Mich packt die nackte Todesangst.
»Scheiße. Die Bullen«, knurrt Tim plötzlich und biegt schlingernd nach rechts in eine Haltebucht ein. Ich bete, dass der Streifenwagen ebenfalls anhält, doch der rast mit jaulenden Sirenen und Blaulicht an uns vorbei. Nan ist schneeweiß im Gesicht. Tim steigt aus. »Scheiße, ich muss pissen«, murmelt er und stakst in Richtung eines blauen Müllcontainers davon.
Als er dahinter verschwunden ist, ziehe ich den Schlüsselbund aus dem Schloss, steige ebenfalls aus und werfe ihn in das Gebüsch am Rand des Parkplatzes.
»Was tust du denn da?«, schreit Nan, folgt mir und breitet verzweifelt die Arme aus.
»Ich sorge dafür, dass wir heil aus diesem Albtraum rauskommen.«
Sie schüttelt den Kopf. »Was hast du dir bloß dabei gedacht, Samantha? Da war auch sein … Fahrradschlüssel dran.«
Ich beuge mich vornüber, stütze die Hände auf die Knie und atme tief durch. Als ich mich wieder aufrichte und Nan den Ausdruck auf meinem Gesicht sieht, fängt sie an zu lachen.
»Okay. Scheiß auf seinen Fahrradschlüssel«, sagt sie. »Aber wie kommen wir jetzt wieder von hier weg?«
In diesem Moment torkelt Tim zu uns zurück. Er steigt in den Wagen und lehnt die Stirn ans Lenkrad. »Mir geht’s nicht gut.« Er atmet zitternd ein, legt die Unterarme gekreuzt um seinen Kopf und löst dadurch die Hupe aus. »Ihr seid echt nette Mädchen. Das seid ihr wirklich. Ich weiß nicht, was zur Hölle mit mir los ist.«
Darauf haben weder Nan noch ich eine Antwort. Wir lehnen ratlos am Wagen. Links von uns rauscht der Verkehr vorbei. So viele Menschen. Und niemand bekommt etwas mit. Wir könnten genauso gut mitten in der Wüste gestrandet sein. »Und jetzt?«, fragt Nan.
Mom hat mir etliche Male Vorträge darüber gehalten, was ich tun soll, wenn ich mit jemandem unterwegs bin, der nicht mehr fahrtüchtig ist. Also rufe ich sie an. Erst zu Hause. Dann auf ihrem Handy. Danach auf Clays Handy – wenn auch äußerst widerwillig. Ich versuche es bei Tracy – nicht dass sie mir von Martha’s Vineyard aus helfen könnte, aber … Es geht sowieso niemand ran. Ich versuche mich daran zu erinnern, was Mom heute Abend für einen Termin hatte, aber es will mir partout nicht einfallen. Ich habe den Überblick über all die »Bürgerversammlungen«, »Runden Tische« und »Informationsveranstaltungen« verloren, an denen sie in letzter Zeit ständig teilnimmt.
Schließlich versuche ich es bei Jase. Er meldet sich nach dem dritten Klingeln. »Sam! Hey, ich …«
Ich unterbreche ihn und erzähle, was passiert ist.
»Samantha!«, ruft Nan, die sich gerade zu Tim in den Wagen beugt. »Ich glaube, er ist ohnmächtig geworden! Oh mein Gott! Sein Puls rast und er ist total verschwitzt!«
»Wo genau seid ihr?«, fragt Jase. »Alice, ich brauche deine Hilfe«, höre ich ihn rufen. »Seht ihr irgendwelche Schilder? Wie heißt die nächste Ausfahrt?«
Ich schaue mich um, kann aber nirgends irgendeinen Hinweis entdecken. Als ich Nan frage, an welcher Stadt wir zuletzt vorbeigekommen sind, zuckt sie nur hilflos mit den Achseln. »Ich hab die Augen zugekniffen.«
»Wir finden euch«, sagt Jase mit fester Stimme. »Steigt in den Wagen, verriegelt die Türen und schaltet die Warnblinker ein, bis wir da sind.«
Fünfundvierzig Minuten später klopft es ans Seitenfenster und als ich aufschaue, sehe ich in Jase’ Gesicht. Hinter ihm steht Alice. Von der ganzen Anspannung ziemlich wacklig auf den Beinen steige ich aus. Jase legt fürsorglich einen Arm um meine Schulter und ich schmiege mich an ihn. Nan, die jetzt ebenfalls aussteigt, hält verdutzt inne, als sie uns so zusammen sieht.
Schließlich löst Jase sich sanft von mir und hilft Alice, die ganz entgegen ihrer sonstigen Art noch keinen einzigen bissigen Kommentar von sich gegeben hat, den bewusstlosen Tim auf die Rückbank des Käfers zu hieven.
»Was hat er eingeworfen?«, fragt Alice.
»Ich … ich weiß es nicht«, stammelt Nan.
Alice beugt sich über ihn, fühlt seinen Puls, riecht an seinem Atem und schüttelt den Kopf. »Ich glaube nicht, dass es was Ernstes ist. Er ist bloß total ausgeknockt. Ich bring die beiden nach Hause, wenn sie« –
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