Mein Sommer nebenan (German Edition)
durch die Haare, wie er es immer tut, wenn er verwirrt ist.
»Nan ist dieses Wochenende mit ihrem Freund nach New York gefahren«, wechselt Tim abrupt das Thema.
Ich schaue überrascht auf. Ich habe nicht gewusst, dass Nan mit Daniel wegfahren wollte.
»Wenn du mich fragst, ist er ein arroganter Schnösel, der Nan das Herz brechen wird. Aber bringt es was, wenn ich ihr das sage? Nein. Ich habe im Leben schon eine Million Fehler gemacht. Wird Zeit, dass die gute Nan mich einholt.«
Jase zieht ein Werkzeug aus seiner Kiste und taucht wieder unter dem Wagen ab. »Würdest du dich wirklich besser fühlen, wenn sie unglücklich wäre?«
»Vielleicht.« Tim greift nach der Flasche Mineralwasser, an der er schon seit einer halben Stunde nuckelt. »Wenigstens bin ich dann nicht der Einzige.«
»Samantha«, zischt Mom. »Halte dich gefälligst gerade und lächle.« Ich stehe auf einer Versammlung der ultrakonservativen Frauenvereinigung »Daughters of the American Revolution« neben ihr und schüttle Hände. Wir sind seit anderthalb Stunden hier und ich habe gefühlte fünfzehn Millionen Mal »Bitte unterstützen Sie meine Mutter. Die Belange des Staates Connecticut liegen ihr wirklich sehr am Herzen« gesagt. Und das ist nicht gelogen. So viel ist sicher. Ich merke nur, wie ich mich von Veranstaltung zu Veranstaltung unbehaglicher fühle und immer weniger nachvollziehen kann, um welche Belange es ihr eigentlich geht.
Ich interessiere mich nicht besonders für Politik. Natürlich lese ich Zeitung, schaue Nachrichten und bekomme mit, worüber in der Schule diskutiert wird, weiß also ungefähr Bescheid, was gerade vor sich geht, aber ich hatte noch nie das Bedürfnis, mich politisch zu engagieren oder auf Demonstrationen zu gehen. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass die Kluft zwischen dem, woran ich glaube und woran meine Mutter glaubt, von Tag zu Tag tiefer wird. Neulich zum Beispiel habe ich mitbekommen, wie Clay ihr erklärt hat, sie müsse sich den wunden Punkt ihres Kontrahenten Ben Christopher zunutze machen, nämlich dass er viel zu liberal sei, und sich verstärkt um das Lager der konservativen Wähler bemühen. Als sie das letzte Mal kandidierte, war ich elf. Damals trat sie gegen diesen Irren an, der sich vehement dagegen aussprach, noch mehr Geld in das staatliche Bildungssystem zu stecken. Im Vergleich zu ihm war sie diejenige, die gemäßigt wirkte.
Diesmal sieht das anders aus. Ich frage mich, wie vielen Kindern von Politikern es schon so ging wie mir jetzt, dass sie all diese Hände geschüttelt und gesagt haben »Unterstützen Sie meine Mutter«, während sie insgeheim dachten »Aber bitte nicht das, wofür sie steht. Weil es falsch ist«.
»Lächle«, zischt Mom noch einmal zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch und beugt sich zu einer kleinen weißhaarigen Frau hinunter, die sich über irgendein Bauvorhaben auf der Main Street aufregt. »Unser schönes Stony Bay so zu verschandeln! Ich bin empört, Senatorin Reed, empört!«
Mom murmelt ein paar beruhigende, verständnisvolle Worte und verspricht, dass ihre Mitarbeiter einen genaueren Blick auf das Projekt werfen und prüfen werden, ob die Bauvorschriften eingehalten werden.
»Wie lange noch?«, flüstere ich.
»So lange, bis wir hier fertig sind, junge Dame. Wer sich für die Belange der Menschen einsetzt, hat nun einmal keine geregelten Arbeitszeiten.«
Mein Blick schweift zu einem von Moms Wahlplakaten, das auf einer Staffelei steht – GRACE REED KÄMPFT FÜR DAS VERMÄCHTNIS UNSERER VORFAHREN, FÜR UNSERE FAMILIEN UND DIE ZUKUNFT UNSERER KINDER – und versuche den türkisfarbenen Schimmer eines Pools im Garten zu ignorieren, der durch die bodentiefen Fenster zu sehen ist. Mir ist heiß und ich fühle mich in dem unbequemen dunkelblauen Empirekleid, das Mom mir herausgesucht hat, extrem unwohl. »Diese Frauen sind sehr konservativ, Samantha. Da darfst du nicht zu viel Haut zeigen.«
Am liebsten würde ich mir das Kleid vom Leib reißen. Wenn alle hier kreischend in Ohnmacht fallen würden, könnten wir nach Hause fahren. Warum habe ich mich nicht einfach geweigert, mitzukommen? Was bin ich? Ihr Schoßhündchen? Eine Puppe? Clay bestimmt über Mom und Mom bestimmt über mich.
»Du hättest dir heute wirklich ein bisschen mehr Mühe geben können, statt die ganze Zeit so ein Gesicht zu ziehen«, sagt sie verärgert, als wir nach Hause fahren. »Andere Töchter wären mit Feuereifer bei der Sache. Die Bush-Zwillinge haben ihren Vater
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