Mein Sommer nebenan (German Edition)
überallhin begleitet, als er kandidierte.«
Schweigend zupfe ich an einem losen Faden im Saum meines Kleids. Mom legt ihre Hand auf meine, damit ich aufhöre. Ihr Griff ist fest. Dann entspannt er sich.
»Ständig hast du unterdrückt geseufzt und mit den Füßen gescharrt«, sagt sie. »Das war peinlich.«
Ich sehe sie an. »Vielleicht solltest du mich das nächste Mal lieber nicht mehr mitnehmen, Mom.«
Sie wirft mir einen scharfen Blick zu, als würde sie ahnen, was in mir vorgeht. »Ich bin mal gespannt, was Clay dazu sagen wird, wie du dich heute benommen hast.«
Clay ist ein bisschen früher gefahren, um im Büro noch Wahlkampfmaterial für die nächste Veranstaltung abzuholen – ein traditionelles Muschelessen am Strand in Linden Park, wo meine Anwesenheit zum Glück nicht erforderlich ist.
»Ich glaube nicht, dass Clay überhaupt auf mich geachtet hat. Er hat nur Augen für dich«, sage ich.
Sie errötet. »Da könntest du recht haben. Er ist wirklich sehr … engagiert.«
Mom verbringt mehrere Minuten damit, von Clays Sachkenntnis und seinem unermüdlichen Einsatz zu schwärmen, während ich hoffe, dass sie sich dabei ausschließlich auf die berufliche Ebene bezieht. Aber ich bin mir sicher, dass sich ihr Verhältnis nicht darauf beschränkt. Mittlerweile lässt er ständig Kleidungsstücke, Schlüssel und andere Dinge bei uns zu Hause herumliegen, hat einen Lieblingssessel im Wohnzimmer, im Küchenradio ist sein Lieblingssender eingestellt und Mom achtet darauf, stets sein Lieblingsgetränk im Kühlschrank zu haben, irgendeine seltsame Kirschlimonade aus den Südstaaten namens Cheerwine. Ich habe sogar den Verdacht, dass sie sich das Zeug extra von dort liefern lässt.
Als wir endlich zu Hause sind und schweigend aus dem Wagen steigen, knattert Joels Motorrad vorbei. Allerdings sitzt nicht Joel darauf, sondern Jase.
Ich schicke ein Stoßgebet gen Himmel, dass er weiterfährt, aber als er uns bemerkt, biegt er in unsere Einfahrt. Er hält, nimmt den Helm ab, wischt sich mit dem Handrücken über die Stirn und schenkt mir sein strahlendstes Lächeln. »Hey, Samantha.«
Mom sieht mich scharf an. »Kennst du diesen Jungen?«
»Ja«, antworte ich mit fester Stimme. »Das ist Jase.«
Höflich wie er ist, hat er ihr bereits die Hand hingestreckt. Ich bete, dass er sich nur mit Vornamen vorstellt.
»Ich bin Jase Garrett von nebenan. Freut mich.«
Mom schüttelt seine dargebotene Hand kühl und wirft mir anschließend einen undurchdringlichen Blick zu.
Jase schaut zwischen uns hin und her und setzt schließlich den Helm wieder auf. »Ich wollte noch ein bisschen rumfahren. Kommst du mit, Sam?«
Ich frage mich, welche Strafe mich erwartet, wenn ich es tue. Hausarrest bis ich fünfunddreißig bin? Wer weiß? Egal. Und plötzlich wird mir klar, dass es mich tatsächlich nicht kümmert. Ich bin stundenlang in einem überfüllten Raum eingesperrt gewesen und habe – wenn auch nur mit mäßigem Erfolg – die Tochter gespielt, die meine Mutter sich wünscht. Jetzt spannt sich der verwaschen blaue Himmel über uns und der Horizont ist weit. Ich spüre, wie ein Ruck durch meinen Körper geht, als hätte mich ein plötzlicher Windstoß erfasst, aber es ist das Blut, das in meinen Ohren rauscht wie damals, als Tim und ich klein waren und uns kopfüber in die hohen Wellen stürzten. Ich schwinge ein Bein über den Sitz des Motorrads und greife nach dem Helm, den Jase mir hinhält.
Einen Moment später sind wir auch schon losgefahren. Ich vergrabe den Kopf an Jase’ Schulter und sehe nicht noch einmal zu meiner Mutter zurück, obwohl ich fast damit rechne, gleich die Sirenen von Polizeiwagen zu hören, die sie uns hinterherschickt, um mich zurückzuholen. Doch bald gebe ich mich einfach nur noch dem Moment hin, genieße den Fahrtwind und schließe die Arme fester um Jase’ Taille. Wir fahren die sandige, von Schilf gesäumte Uferstraße entlang, kurven eine Weile ziellos durch die Stadt, vorbei an den adretten rot-weiß gestrichenen Häusern im Kolonialstil und den in gleichmäßigem Abstand gepflanzten Ahornbäumen, und kehren schließlich zur Uferstraße zurück. Am McGuire Park kommt Jase zum Stehen und stellt den Motor ab. Mein Blick fällt auf einen Spielplatz, auf dem ich schon seit Jahren nicht mehr gewesen bin. Das war immer mein Zwischenstopp auf dem Nachhauseweg vom Kindergarten.
»Tja, Samantha.« Jase nimmt seinen Helm ab, hängt ihn an den Lenker und hilft mir, abzusteigen. »Scheint, als
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