Mein Sommer nebenan (German Edition)
eine Erklärung.
Ich öffne die Caulfield/Finn-Datei. Es ist der Aufsatz, für den Nan mit dem Lazlo-Preis ausgezeichnet worden ist und der im Literaturjournal veröffentlicht werden soll. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie alle ihre Arbeiten auf Tims Computer verfasst hat. Also gibt es nur eine Möglichkeit, wie sie dorthin gekommen sind. Er hat sie ihr gestohlen. Aber warum? Will er sich damit an Universitäten bewerben? Oder hat Nan sie ihm etwa gegeben?
Ich weiß, dass sie ihren Bruder immer und immer wieder gedeckt hat. Genau wie ich. Aber dass sie so weit gehen würde, hätte ich nicht gedacht.
Ich kann es nicht fassen. Tim gibt Nans Arbeit als seine eigene aus.
Ich starre wie betäubt auf den Bildschirm.
»Samantha, kannst du dich vielleicht für eine Weile von deinem Freund loseisen?« Nans Stimme dringt hoch und zitternd aus meinem Handy.
»Natürlich. Wo bist du?«
»Komm bitte ins Doane’s.«
Das bedeutet, dass Nan mal wieder ihre Zuckertherapie braucht. Kein gutes Zeichen. Wollte sie nicht übers Wochenende mit Daniel nach New York fahren? Es ist erst Samstag. Hat Tim nicht erzählt, dass Daniel sie zu einer MUN -Konferenz, auf der Schüler und Studenten die Arbeit der Vereinten Nationen nachstellen, mitnehmen wollte und dass sie bei seinem Onkel übernachten, der wahnsinnig streng und konservativ ist?
Die Masons wohnen näher an der Altstadt als wir, weshalb ich nicht überrascht bin, dass Nan schon an der Theke sitzt, als ich ins Doane’s komme. Worüber ich allerdings überrascht bin, ist, dass sie sich bereits über ein Bananensplit hergemacht hat.
»Sorry«, sagt sie, den Mund voller Schlagsahne. »Ich konnte nicht warten. Es fiel mir schon schwer, die Bedienung nicht aus dem Weg zu rempeln und das Eis direkt aus den Kübeln zu löffeln. Ich bin schon genau wie Tim. Seit er aufgehört hat zu trinken, hat er ständig Heißhunger auf Süßes.«
»Im Gegensatz zu ihm hast du aber anscheinend nicht vor, clean zu werden, oder?«, sage ich. »Was ist mit Daniel?«
In ihren Augen glitzern sofort Tränen
»Ach, Nan.« Ich will sie umarmen, aber sie schüttelt den Kopf.
»Bestell dir was und dann setzen wir uns raus, okay? Ich will nicht, dass uns jeder hier drin hören kann.«
Außer uns sind nur die Verkäuferin und eine Mutter mit ihrem kleinen Sohn im Laden, der gerade einen hysterischen Anfall bekommt, weil sie sich weigert, ihm eine ungefähr ein Meter lange Lakritzstange zu kaufen. » DU BIST TOTAL GEMEIN. ICH WERDE DICH MIT MEINEM RITTERSCHWERT TÖTEN !«
»Ja, lass uns lieber nach draußen gehen, bevor wir noch Zeugen einer Ermordung werden«, sage ich. »Ich hol mir mein Eis später.«
Nan stellt ihren Becher vor sich auf dem Bistrotisch ab, nimmt die Kirsche zwischen Zeigefinger und Daumen und taucht sie in die Schokoladensauce. »Was glaubst du, wie viele Kalorien so ein Eisbecher hat?«
»Nan«, seufzte ich. »Jetzt erzähl endlich. Was ist passiert? Tim hat gesagt, du wärst das ganze Wochenende weg.«
»Tut mir leid, dass ich dir nicht Bescheid gegeben habe. Daniel wollte nicht, dass es irgendjemand weiß. Und Tim hab ich es nur erzählt, weil ich dachte, er hätte vielleicht eine noch bessere Ausrede für den New-York-Trip, aber er fand das mit der MUN -Konferenz und dem strengen Onkel schon überzeugend genug. Obwohl meine Eltern es vermutlich noch beruhigender gefunden hätten, wenn wir gesagt hätten, wir würden bei Daniels Tante im Kloster wohnen.«
»Du hättest es mir trotzdem erzählen können. Ich würde dich doch nie verraten.« Mir fallen wieder ihre Aufsätze auf Tims Laptop ein. Soll ich sie darauf ansprechen?
Wieder kommen ihr die Tränen. Sie wischt sie ungeduldig weg und schiebt sich den nächsten Löffel Eiscreme in den Mund. »Das weiß ich doch. Tut mir leid, dass ich dir nichts gesagt habe. Ich war … Ich hatte das Gefühl, dass du dich gerade nur für deinen Supertypen interessierst, und dachte, ich fahre einfach mit Daniel weg und komme als gereifte Frau zurück, die im Big Apple die nächste Stufe ihrer Beziehung erklommen hat.«
Ich verziehe das Gesicht. »Ist das wieder ein Originalzitat von Daniel? Was für eine Sprache spricht er? Man bräuchte ein Wörterbuch, in dem seine Phrasen übersetzt werden. ›Lass uns die nächste Stufe unserer Beziehung erklimmen‹ entspricht wahrscheinlich in Wirklichkeit ›Komm schon, Baby, mach mich heiß‹.«
Nan schiebt sich einen weiteren Löffel Eis in den Mund. »Und was würde ›Es ist an der
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