Mein Tag ist deine Nacht
zwei.«
»Mache ich.«
»Okay, ich spreche mal mit dem Facharzt. Sofern er zustimmt, lasse ich Sie später nach Hause gehen.«
»Danke.«
»Tja,
ich
finde nicht, dass du heimgehen solltest«, meinte Clara, als Dr.Chin weg war. »Sie haben ihn extra von der Station kommen lassen, als ich ihnen sagte, du seist am Samstag hier gewesen. Während deiner Ohnmacht hat er wirklich alle zwanzig Minuten persönlich nach dir gesehen. Ich kapiere nicht, wieso die meinen, sie könnten dich gehen lassen. Du bist doch überhaupt nicht du selbst, Jess!«
Bei Claras Worten hätte ich beinahe losgelacht. Ich war garantiert nicht ich selbst, zumindest die halbe Zeit.
»Noch bin ich ja gar nicht entlassen«, wiegelte ich ab. »Vielleicht überlegen sie es sich ja noch anders.«
»Ich rufe mal in der Kanzlei an«, meinte sie und schob ihren Stuhl zurück, »und sage Bescheid, dass du wieder bei Bewusstsein bist und alles okay ist. Mr.Armitage war außer sich vor Sorge, als du nicht wieder aufwachen wolltest.«
»So schlimm kann’s nicht gewesen sein, sonst hätte er mich doch begleiten können«, wandte ich ein.
»Um halb drei hatte er einen Termin mit einem Mandanten, ansonsten hätte er’s getan. Ich habe gesagt, ich fahre mit, und er wirkte sehr erleichtert. Ich bin der Ambulanz mit dem Wagen gefolgt.«
Sobald Clara nach draußen ging, um zu telefonieren, versuchte ich, meine Gedanken zu ordnen. Was diesen Nachmittag passiert war, war ausgesprochen beunruhigend. Es schien darauf hinzudeuten, dass ich Laurens Körper nicht nur während meiner Nacht bewohnte, sondern dass sie mich notfalls selbst in wachem Zustand zu sich diktieren konnte. Wo blieb ich dabei? Was war mit meinem eigenen Leben? War an eine Beziehung mit Dan oder sonst jemandem überhaupt noch zu denken, wenn jederzeit die Möglichkeit bestand, dass ich verschwand, um Lauren zu sein?
»Wie viel Uhr ist es bitte, Clara?«, erkundigte ich mich, als sie zurückkehrte.
»Fast vier. Für ein warmes Getränk würde ich töten. Soll ich mal nachsehen, ob der Krankenhauskiosk noch offen hat?«
»Du sprichst wohl besser erst mit einer Krankenschwester, ehe du Kaffee oder Tee in die Notaufnahme bringst. Aber wenn sie nichts dagegen hat, hätte ich gern einen Tee.«
Clara machte sich wieder auf, und ich kämpfte gegen meine Verzweiflung an. Ein paar Tage lang war mir das alles wie ein seltsames Abenteuer vorgekommen, ein merkwürdiges Spiel, das eine Weile mitgespielt werden musste. Gar nicht auszudenken, wenn das auf ewig so weiterging …
Clara und ich hatten unseren Tee gerade ausgetrunken, als Dr.Chin den Kopf durch die halb zugezogenen Vorhänge streckte.
»Der Facharzt hat sich Ihre Krankenakte angesehen, Miss Taylor, und er sagt, Sie können heim. Sollen sich aber ausruhen. Ausgiebig ausruhen, bitte.«
Eine junge Krankenschwester kam, löste die Elektroden des Herzfrequenzmonitors und brachte mir meine Kleidungsstücke. Dann folgte ich Clara zu ihrem Wagen, saß dann darin und starrte aus dem Fenster, während sie mich zu meiner Wohnung chauffierte. Das Laub auf den Bäumen färbte sich von Gold und Braun zu Rostbraun und Karminrot. Der lange, trockene Sommer hatte zu den prachtvollsten Farbausbrüchen der Natur geführt, und der Gewittersturm am Wochenende hatte das welkende Laub entrollt und mit frischer Lebenskraft erfüllt.
Bald bog Clara mit ihrem knallgelben Honda auf die Parkfläche vor meinem Wohnhaus ein.
»Soll ich noch mit reinkommen?«
»Nicht nötig, aber vielen Dank, du warst klasse.«
Sie reichte mir meine Handtasche, die sie sich in weiser Voraussicht von meinem Stuhl in der Kanzlei geschnappt hatte, als sie aufgebrochen war.
»Pass auf dich auf, Mädel. Den Rest der Woche kommst du nicht zur Arbeit, hast du mich verstanden?«
Ich beugte mich zu ihr hinüber und umarmte sie.
»Du bist eine gute Freundin, Clara.«
Ich sah zu, wie sie ihren Wagen wendete, bis er wieder in die Richtung zeigte, aus der wir gekommen waren, dann brauste sie davon und ließ mich mit einem seltsamen Gefühl der Leere zurück. Ich drehte mich um und ging die Treppe hinab zu meinem gepflasterten Hof und schloss unter stürmischem Begrüßungsgebell von Frankie die Wohnungstür auf.
Nach Frankies Abendrunde wanderte ich in meiner Wohnung auf und ab, fuhr mit den Fingern über die staubigen Möbel und goss meine Zimmerpflanzen.
Ich verspürte das Bedürfnis, mich wieder irgendwie mit meinem echten Leben zu verbinden, dem, das ich immer gekannt hatte. Ich
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