Mein Tag ist deine Nacht
seist du nicht sie«, klagte Karen. »Ich habe doch gewusst, dass du nicht erst nächste Woche mit einem Psychiater reden solltest, verdammt! Ist doch lächerlich, dass sie dich einfach so ohne Begleitmaßnahmen aus dem Krankenhaus entlassen haben!«
Ich packte sie am Handgelenk und fokussierte ihre Augen.
»Sieh mich an, Karen. Ich bin nicht Lauren. Schau mir in die Augen. Kannst du dort Lauren erkennen?«
Ich beobachtete, wie sie in meinen Augen nach etwas Vertrautem forschte, und sich ihre dann angstvoll weiteten. Sie riss sich von mir los.
»Lauren ist gestorben«, fuhr ich fort. »Aber, aus welchem Grund auch immer, hat sich ein Teil von Jessicas Lebenskraft – meiner Lebenskraft – in sie hineinbewegt.«
»Ich höre einfach nicht zu!« Karen zog Teddy von der Schaukel und sah sich nach den anderen um.
Ich berührte sie bittend am Arm, und sie hielt inne und blickte mich an.
»Dir geht es nicht gut.«
»Doch«, erwiderte ich fest. »Tatsächlich heilen meine Verletzungen äußerst schnell. Du hast selbst gesagt, wie gut die Brandwunden aussehen.«
»Das habe ich nicht gemeint, und das weißt du auch.«
»Versteh mich doch«, bat ich sie mit den Anfängen eines hoffnungsvollen Lächelns.
Karens Gesicht entspannte sich, und sie sah mich fragend an.
»Du verlangst verdammt viel, Schwesterherz.«
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11
W ir wanderten langsam an der Schafsweide entlang, hielten Teddy an den Händen, hoben ihn hoch und sangen »Engelein flieg«. Die anderen Kinder waren noch immer auf dem Spielplatz, doch wir konnten sie gut von weitem beobachten.
»Lass mich das mal klarstellen«, flüsterte Karen nach einer Weile. »Du willst andeuten, dass deine Seele im falschen Körper steckt?«
Ich nickte.
»Ach du Schreck, Lauren! Wenn du im Krankenhaus mit so einem Gewäsch daherkommst, karren sie dich in die Klapsmühle!«, rief Karen. »Vielleicht ist es ja doch besser, dass du noch bei keinem Seelenklempner warst. Verflixt, die hätten dich an die Couch gefesselt und eine wissenschaftliche Arbeit über dich verfasst.«
»Deshalb habe ich den Ärzten ja auch nichts davon erzählt.«
»Du sagst also, in dir steckt die Lebenskraft dieser anderen Frau, die dich hier bei uns hält?«
»Ja, nur habe ich dir zu erklären versucht, dass Jessica Taylor auch nicht gestorben ist. Ich bin beide, Karen.«
Scheinbar mehrere Minuten sah Karen mich stumm an und zuckte dann die Achseln.
»Das dürfte nicht ganz einfach sein.«
Ich blieb stehen und wandte mich ihr zu. »Du glaubst mir nicht.«
Den Blick noch immer auf mich gerichtet, sank Karen auf eine nahe stehende Bank.
»Was zum Teufel erwartest du? Das ist alles so weit hergeholt, Wahnsinn. Und überhaupt, wenn ich dir glaubte, dann würde das bedeuten, dass meine Schwester tot ist!«
»Es tut mir leid, Karen«, flüsterte ich. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass Lauren bei dem Blitzschlag ums Leben gekommen ist. Den Worten der Ärzte entnehme ich, dass die Verletzungen, die sie dabei davongetragen hat, sie aus medizinischer Sicht getötet hätten. Ich wurde im selben Augenblick getroffen, nur dass die Zeit sich leicht verschoben hat, und beide Körper haben gleichzeitig überlebt.«
»Jetzt weiß ich, dass du scherzt.«
»Ich wünschte, dem wäre so.«
Die Stille hing in der Luft zwischen uns, und Karen rückte ein wenig von mir ab.
»Wir hatten unsere Meinungsverschiedenheiten, Lauren und ich«, sagte sie schließlich. »Aber sie war immer noch meine Schwester. Ich habe sie geliebt. Ich möchte nicht, dass sie tot ist.«
»Glaub mir, ich möchte das auch nicht. Ich möchte wieder die sein, die ich zuvor war.«
Ich ließ meinen Blick über die hügelige Landschaft um uns herum schweifen, über die Kühe, Schafe und Pferde auf ihren Feldern, vernahm Gelächter von Kindern, die auf den alten Traktoren spielten, und begriff, dass das so nicht ganz stimmte. Bisweilen genoss ich es, Lauren zu sein. Denn es kam mir vor, als sei Jessicas Leben leer und bedeutungslos.
Einen Augenblick lang fragte ich mich, warum ich mich den besten Teil der Woche in dieser schmuddeligen Kanzlei vergrub. Ich wusste, ich wollte diese Zusatzqualifikationen haben, wollte, dass man mich in besserem Licht sah, meinen Lebensstandard erhöhen, aber ohne jemanden, der daran teilhaben konnte – jemanden, den man liebte –, was brachte das alles dann? Meine Beziehung mit Stephen hatte nicht funktioniert, und seitdem hatte niemand mehr mein Herz gerührt, zumindest nicht bis Dan, und die
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