Mein Tor ins Leben - Bajramaj, L: Mein Tor ins Leben
noch komplett zu lesen. Eines Tages werde ich das schaffen. Mir geht es da wie vielen anderen jungen Menschen, denen Religion nicht gleichgültig, für die aber der Glaube auch nicht totaler Lebensinhalt ist. Ich glaube fest daran, dass es jemanden gibt, der von oben schaltet und waltet. Manchmal geht dieser Jemand seltsame Wege, aber es liegt nicht in meinem Ermessen, das zu beurteilen. Viele Ereignisse sind vorherbestimmt, die kann man sich nicht aussuchen. Jeder muss sein Päckchen tragen. Ich bete viel für meine Familie und hoffe, dass unsere Last nicht zu groß wird und dass es uns noch sehr lange sehr gut geht.
Eine frühere Freundin, die aus Marokko stammt und die ich leider aus den Augen verloren habe, war beim Thema Religion ein guter Ratgeber. Nadia und ich diskutierten viel über unseren gemeinsamen Glauben und den Koran. Wie weit muss man beispielsweise den Text der Heiligen Schrift kennen? Jeder gläubige Muslim sollte schließlich im Laufe seines Lebens den Koran mehrmals gelesen und eine gewisse Anzahl an Kapiteln, die sogenannten Suren, auswendig gelernt haben. Nadia beherrschte einige Teile des Korans wortwörtlich, ich eher nicht. Auch mein Opa Ramush, also der Vater von meinem Papa, kann die wichtigsten Textabschnitte aufsagen. Er erzählte mir als Kind und Teenager ausführlich vom Koran und dem muslimischen Glauben. Von ihm konnte ich viel lernen. So umfasst der Koran Regeln zum religiösen Leben sowie zu Heirat, Scheidung und Erbangelegenheiten. Außerdem werden im Koran Grundwerte wie Gerechtigkeit, Gemeinwohl, das immer vor Eigennutz rangiert, Verantwortlichkeit,
Familiensinn sowie die Wertschätzung von Güte, Ehrlichkeit, Verlässlichkeit, Aufrichtigkeit, Sauberkeit, Tapferkeit, Mitgefühl, Opferbereitschaft, Geduld, Fleiß, Bescheidenheit, Genügsamkeit und Ähnliches vermittelt. Ganz schön viel, was da zusammenkommt. Heute interpretieren sowohl die fortschrittlichen als auch die radikalen Muslime den Koran in ihrem eigenen Sinne – jeder auf seine Weise – und nehmen nicht immer alles wortwörtlich.
Wir Kosovo-Albaner leben in der Regel den fortschrittlichen Islam. Entsprechend zurückhaltend religiös wurde ich erzogen. Es gibt einen roten Faden, an den wir uns halten. Aber alles muss in Maßen geschehen. In unserer Familie essen wir zum Beispiel, wie im Koran verlangt, kein Schweinefleisch. Das hat seinen Ursprung in der Geschichte, als Schweine als extrem dreckig galten und Krankheiten übertrugen. Deshalb ist das Verzehren von diesem Fleisch verboten. Alkohol gibt es in unserer Familie nur zu ganz besonderen Anlässen. Ab und zu genehmigt sich Papa ein Bier. Rauchen ist bei uns verpönt. Mein großer Bruder Fatos hält nicht immer durch, aber aus Respekt vor Papa und Mama würde er sich niemals in ihrer Gegenwart eine Zigarette anzünden.
Wir Muslime feiern auch kein Weihnachten. Dieses Fest kennt unsere Religion nicht. Wir begehen dafür den Jahresabschluss Silvester. Dann tanzen wir viel, und ab Mitternacht nehmen die Feierlichkeiten erst so richtig Fahrt auf. Und es gibt an diesem Tag Geschenke für alle, Weihnachten dagegen nicht. Das größte Fest für uns aber ist das sogenannte »Seker Bayram«, das Zuckerfest. Es wird am Ende des Fastenmonats Ramadan – dazu später mehr – gefeiert. An diesem Tag werden süße Gerichte gereicht und eine Menge Süßigkeiten verteilt. Gerade als Kind habe ich dieses Fest abgöttisch geliebt!
Viele werden jetzt wahrscheinlich davon ausgehen, dass man als »praktizierender Muslim« regelmäßig in die Moschee geht, so wie der sonntägliche Kirchgang für viele Christen eigentlich dazugehört – auch wenn junge Leute ja eher weniger in die Kirche gehen. Bisher war ich in meinem Leben
aber nur ein einziges Mal in einer Moschee. Für mich widerspricht sich das nicht, zu glauben und nicht in eine Moschee zu gehen. Ich kann meinen Glauben überall ausleben und ich glaube fest daran, dass es nur diesen einen Gott gibt. Mein Bruder Flakron besucht jedoch regelmäßig das Freitagsgebet in der muslimischen Gemeinde von Mönchengladbach. Er ist von uns fünfen auf diesem Gebiet der Fleißigste, Papa ist da zurückhaltender. Jeder muss das für sich selbst entscheiden. Meine Mama betet wie ich regelmäßig, allerdings auch keine fünfmal am Tag Richtung Mekka.
Zur Erklärung: Mekka in Saudi-Arabien ist die heiligste Stadt für die Anhänger des Islam. Dort befindet sich die sogenannte Kaaba, das »Haus Gottes«. Es ist das Zentrum der Stadt.
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