Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mein Weg - Ein politisches Bekenntnis

Mein Weg - Ein politisches Bekenntnis

Titel: Mein Weg - Ein politisches Bekenntnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Chodorkowski
Vom Netzwerk:
eine Flasche Wasser mit ins »Aquarium«; Chodorkowski kaute häufiger Kaugummi, um das Hungergefühl zu überwinden. Bisweilen griff er sich an den Kopf, wenn die Kopfschmerzen kamen. Ich muss zugeben, dass beide Angeklagten in Anbetracht dieser Lebensweise nicht schlecht aussahen. Platon Lebedew war freilich merklich abgemagert, er hatte seinerzeit an Hepatitis gelitten und die Leber machte ihm Probleme. Beide waren blass und natürlich in diesen Jahren, die sie vornehmlich in der Gefängniszelle zubringen mussten, nicht jünger geworden. Sie bekamen zu wenig Sonne und Bewegung. Aber sie zeigten sich kein bisschen verzagt. Sie hielten sich aufrecht, waren stets adrett gekleidet und gut rasiert. Beide konnten klar denken, trugen ausgezeichnet vor, stellten präzise Fragen und machten treffende Anmerkungen. Und hatten sich ihren Sinn für Humor bewahrt, was besonders beeindruckend war.
    Auf der Anklagebank saßen hochintelligente, hochqualifizierte Männer mit ausgezeichnetem Gedächtnis, die die Akte seitenweise auswendig kannten, Profis auf ihrem Gebiet: von der Erdölförderung bis hin zu den Finanztransaktionen des Unternehmens. Ihnen standen vier Staatsanwälte gegenüber, von denen keiner den Angeklagten das Wasser reichen konnte. Sie vertraten den Staat, und der Staat gab mit solchen Vertretern ein erbärmliches Bild ab. Den Staat vertrat auch der Richter, von dem alle wussten, dass er lediglich formal das Urteil sprach. In Wirklichkeit wurde das Urteil von anderen Leuten gefällt – denjenigen, die sich all das ausgedacht hatten und von denen die Karriere, das Gehalt und die Zukunft der Staatsanwälte und des Richters abhingen. Interessanterweise waren an der Decke des Gerichtssaals drei Videokameras angebracht. In keinem anderen Saal des Gerichts von Chamowniki habe ich solche Kameras gesehen. Eine hatte den Richter im Visier, die zweite war auf die Staatsanwälte und die dritte auf die Angeklagten gerichtet. Der Prozess wurde offensichtlich in Gänze mitgeschnitten. Von diesen Kameras wurde er wohl teilweise auch in das Pressezimmer übertragen. Ich weiß nicht, wo diese Aufzeichnungen noch angesehen wurden, aber es war klar, dass sowohl der Richter als auch die Staatsanwälte keine Sekunde vergaßen, dass der »Große Bruder« nicht schlief und alles sah. Zumindest war das offenbar die Absicht.
    Die Anschuldigungen gegen Chodorkowski und Lebedew galten als nicht schwerwiegend genug, als dass der Prozess einem Geschworenengericht hätte übergeben werden können. Ich bin mir nicht sicher, ob ein Geschworenengericht angesichts des in Russland herrschenden Klassenhasses gegenüber Reichen – eines Hasses, der selbst in einigen Einwürfen der Staatsanwälte durchkam – objektiv geurteilt hätte; aber es liegt auf der Hand, dass es schwieriger gewesen wäre, ein Geschworenengericht zu beeinflussen als einen einzelnen Richter. Und dabei drohten Chodorkowski und Lebedew wegen der als »nicht schwerwiegend genug« bezeichneten Anschuldigen bis zu 22 Jahre Haft.
    Das Gefährliche an diesem Prozess war, dass er den Anschein eines echten Gerichtsverfahrens weckte, das er aber eigentlich nicht war. Ja, es konnte zwar jedermann einfach von der Straße in den Saal Nr. 7 kommen und verfolgen, was sich hier abspielte. Aber der Richter schloss sich verblüffend oft praktisch wortwörtlich der bisweilen vollständig sinnentleerten Beweisführung der Anklage an oder begründete seine Entscheidungen erst gar nicht (»das Gericht sieht keine rechtliche Grundlage«). Und allzu häufig ignorierte er absolut stichhaltige Argumente der Verteidigung. Er brachte es sogar fertig, Änderungen gesetzlicher Bestimmungen zu vergessen, die den Angeklagten ihr Schicksal erleichtert hätten. So tat der Richter beispielsweise so, als gäbe es jene vom Präsidenten selbst initiierten Gesetzesänderungen gar nicht, wonach Angeklagte, denen Wirtschaftsdelikte im Sinn der Paragrafen zur Last gelegt werden, nach denen Chodorkowski, Lebedew und Tausende anderer Kollegen einsitzen, nicht in Haft behalten werden dürfen. Chodorkowski trat deshalb in den Hungerstreik, gewissermaßen stellvertretend für alle »Wirtschaftsangeklagten« des Landes, ohne dabei seine Teilnahme am Prozess zu unterbrechen. Präsident Medwedew und der Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs, Wjatscheslaw Lebedew, gaben sogleich über die Presse zu verstehen, dass sie auf dem Laufenden seien. Chodorkowski brach den Hungerstreik ab, und das Land musste erfahren, dass die

Weitere Kostenlose Bücher