Mein Weg - Ein politisches Bekenntnis
Gesetzesänderungen des Präsidenten schlichtweg keine Wirkung hatten und von den Richtern ignoriert wurden. Richter Danilkin hinderte all das nicht, die Haftfrist für Chodorkowski und Lebedew zu verlängern und dieselbe Nummer drei Monate später noch einmal zu bringen. Die beiden waren eben »besondere« Angeklagte, für die eine »besondere« Art der Rechtsanwendung (oder eben Nichtanwendung) galt.
Im Gegensatz zum ersten Prozess, bei dem Chodorkowski, wohl aus Angst, er könnte vor allem den Yukos-Mitarbeitern und dem Unternehmen selbst schaden, das er immer noch zu retten hoffte, nicht bereit war, über den rein rechtlichen Rahmen hinauszugehen, unterstrich er bei diesem Verfahren zweimal den politischen Charakter seiner Verfolgung: ganz zu Beginn des Prozesses und in seinem Schlussplädoyer. Seinen Auftritt im zweiten Prozess leitete er mit einer politischen Erklärung ein, trotz der Bemühungen des Staatsanwalts, ihn zu unterbrechen. Chodorkowski bestätigte noch einmal, dass er sich nicht schuldig bekenne, und sagte: »Ich meine, dass dieser Gerichtsprozess politisch und durch Korruption motiviert ist. Ausgelöst wurde er von der Furcht meiner Widersacher vor meiner Freilassung. Die politische Motivation besteht sowohl in der Ablehnung meiner Unterstützung für die unabhängige Opposition als auch in dem Wunsch, sich die Vermögenswerte anzueignen, die sich aus meinem Eigentumsrecht am größten und erfolgreichsten russischen Erdölkonzern, Yukos, ergeben.«
Die Machthabenden fürchten, dass Chodorkowski, einmal in Freiheit, sich wie der Graf von Monte Christo aufführen, dass er Rache nehmen und versuchen wird, sich sein Eigentum zurückzuholen. Davon sind sie überzeugt, obwohl Chodorkowski mehrmals öffentlich betont hat, dieses Kapitel sei abgeschlossen und für die Zukunft habe er andere Pläne. Ich persönlich glaube ihm, dass er andere Interessen und Pläne hat, denke auch nicht, dass er auf Rache sinnt, aber ich bin sicher, dass Chodorkowski diese Jahre, die auf Geheiß anderer aus seinem Leben gestrichen wurden, nicht vergessen und nicht verzeihen wird.
Der Regisseur, der diese Show ersann, hatte wohl die Anklage über- und die Angeklagten unterschätzt. Aus einem Gerichtsverfahren mit vorher bekanntem Ausgang, das öffentlich in Moskau stattfand, musste eine Farce werden. Ein Schuldspruch war in dieser Situation weitaus schwieriger als noch vor ein paar Jahren. Hinzu kam, dass die Autoren des Prozesses nicht alle Umstände voraussehen und berücksichtigen konnten: die Krise, den Rückgang des Ölpreises, die Rezession der russischen Wirtschaft und den dadurch bedingten Verlust des Vertrauens zu Behörden und Strafverfolgungssystem, die Naturkatastrophen, mit denen die Staatsmacht nicht zurande kam, die wachsende Proteststimmung im Land, die geänderte Taktik der Angeklagten, die Einbeziehung internationaler Gerichte, welche Klagen im Fall Chodorkowski und Lebedew zuließen, sowie die unter anderem auf materiellen Forderungen von Aktionären im Ausland beruhenden Klagen gegen Russland und die langsam aber sicher steigenden Sympathiewerte der Angeklagten in Russland selbst wie im Ausland. Immer häufiger ließen sich landesweit bekannte Schauspieler, Musiker, Künstler, Schriftsteller, internationale Beobachter, Oppositionspolitiker, Fernsehstars und Bürgerrechtler im Gerichtssaal sehen. Doch über den Prozess berichtete kein einziger der großen Fernsehkanäle, die ganze Idiotie war zunächst also nur einem Publikum offensichtlich, das zahlenmäßig durch die in Saal Nr. 7 des Gerichts in Chamowniki zur Verfügung stehenden Plätze begrenzt war. Den Machthabern war klar, dass das Land nicht mit der Wimper zucken würde, egal wie das Urteil ausfiel, denn es konnte den Prozess weder sehen noch sonst irgendwie verfolgen.
Das Paradoxe ist, dass die Verantwortung für diesen Prozess auf Dmitri Medwedew zurückfallen wird, der, wie es heißt, kein großer Befürworter der gewaltsamen Variante im Umgang mit den Yukos-Inhabern war. Medwedew ist allein schon deshalb verantwortlich, weil die Judikative dem Zuständigkeitsbereich und der Aufsicht des Präsidenten untersteht. Auch eine Entscheidung, die tatsächlich von Putin (mit oder ohne Setschin) getroffen wurde, wird dennoch als Medwedews Entscheidung gelten – selbst wenn er persönlich mit ihr gar nichts zu tun hatte. Dmitri Medwedew, der sich diese ganze Geschichte nicht ausgedacht hat, steckt in einer Falle – dieser Prozess ist de facto auch
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