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Mein Weg - Ein politisches Bekenntnis

Mein Weg - Ein politisches Bekenntnis

Titel: Mein Weg - Ein politisches Bekenntnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Chodorkowski
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dem Auslandsmarkt zustande kam und weiter zustande kommt und warum eigentlich der Inlandspreis niedriger ist als der Preis in Rotterdam, was ebenfalls Chodorkowski und Lebedew angelastet wurde. Eine einfache Frage wie die, ob sie angesichts des nach wie vor sehr niedrigen Einkommensniveaus in Russland etwa lieber den europäischen Preis für Benzin zahlen würden, also anderhalb statt 0,50 Euro pro Liter, löste bei den Staatsanwälten ehrliche Verwunderung aus. Das war ein großes Problem: Die Staatsanwälte legten den Angeklagten Dinge zur Last, in denen diese sich bestens auskannten, sie selbst dagegen nicht im Geringsten. Das Ergebnis grenzte manchmal ans Komische: Ein Staatsanwalt, der das englische Wort »oil« in einem Dokument völlig abwegig als »null eins« liest – aber dem Profi, der im selben Prozess ganze Vorlesungen über Erdöl, Preisbildung, vertikal integrierte Unternehmen und über Förder- und Transportsysteme hält, widerspricht. Die Hälfte der im Saal Anwesenden kannte sich in den Nuancen des Ölgeschäfts und der Buchführung irgendwann besser aus als die Staatsanwälte. Und was tat Staatsanwalt Lachtin, der Hauptvertreter der Anklage, in dieser Situation? Er benahm sich wie ein Schüler, der seine Hausaufgaben schlecht gemacht hat: Er setzte sich aggressiv zur Wehr, wurde laut, lehnte Experten der Verteidigung ab, warf den von der Verteidigung geladenen Spezialisten Inkompetenz, Eigennutz oder unzulängliche Kenntnisse der Verfahrensunterlagen vor (die sie ja auch nicht zu kennen brauchten). Richter Wiktor Danilkin unterbrach die Staatsanwälte nicht, wenn sie Experten und Zeugen beleidigten, und teilte auffällig oft die Position der Anklage. Und was taten die wenigen Minister, deren Vorladung als Zeugen der Richter zugestimmt hatte? Trotz aller Wendigkeit ihres Beamtenverstandes blieb ihnen nichts anderes übrig, als die Wahrheit zu sagen, und so sagten sie gegen die Anklage und zugunsten von Lebedew und Chodorkowski aus.
    »Der reinste Kafka«, sagte gedankenversunken eine ausländische Freundin von mir, die hervorragend Russisch spricht; drei Tage lang hatte sie zuvor den Prozess besucht. Dann steckte sie sich eine Zigarette an und setzte hinzu: »Ein russischer Kafka … Kafka selbst hätte sich bestimmt gefreut, dass man seine Absurdität noch vervollkommnen und zu so einer Hyper-Absurdität steigern kann.«
    Dieser »russische Kafka« zog sich fast zwei Jahre lang hin. Jeden Tag, außer mittwochs, samstags und sonntags, wurden Michail Chodorkowski und Platon Lebedew um 6.45 Uhr, manchmal auch früher, geweckt, durchsucht, in ein Sonderfahrzeug mit zwei Metallkapseln – eine für Chodorkowski und eine für Lebedew – gesetzt und mit einer Eskorte vom Gefängnis Matrosskaja Tischina in das Gericht des Stadtteils Chamowniki gebracht. Das Auto wurde von einem anderen Fahrzeug mit Angehörigen eines Sondereinsatzkommandos begleitet. Häufig schafften es die Inhaftierten gerade noch, sich zu rasieren, für das Frühstück blieb keine Zeit. Wenn in Moskau Stau war, und in Moskau ist immer Stau, konnte sich der Weg vom Gefängnis zum Gericht bis zu zwei Stunden hinziehen. Hätte es, Gott bewahre, einen Unfall gegeben, so wären die Chancen der Angeklagten, in einer solchen Metallzwinge zu überleben, gegen null gegangen.
    Jeden Tag wurden sie aus der Gefängniszelle gebracht und dann aus dem Gefängnisfahrzeug heraus in das »Aquarium« im Gerichtssaal geführt – eine Glasmetallkonstruktion von etwa 3 × 1,5 × 2 Meter, mit einer Verriegelung, einem Schloss und einer Kette, wo sie den größten Teil des Tages verbringen mussten, mit einer Mittagspause und kurzen Unterbrechungen auf Antrag der Parteien. Der wunderbare russische Schauspieler und Regisseur Sergej Jurski, der mehrere Male zu den Verhandlungen kam, besah das gerichtliche Spektakel mit den Augen des Regisseurs und wies darauf hin, dass das Bühnenbild nicht zufällig so angeordnet war: »Ich kann diesen ›Schrank‹, das Demütigende dieses Bühnenbildes nicht mehr ertragen. Das stört den Prozess doch nur. Ein Mensch, dessen Augen nicht zu sehen sind, der in eine Ritze hineinspricht und gezwungen ist, sich dabei vornüberzubeugen – das ist eine ungeheuerliche Demütigung, eine Schande für das Verfahren.«
    Seit Beginn des zweiten Prozesses machte das Gericht nicht mehr Urlaub. Diese ganze Zeit über waren die Angeklagten praktisch nicht an der frischen Luft und erhielten kein warmes Mittagessen. Sie brachten sich jeder

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