Mein Weg - Ein politisches Bekenntnis
Direktorenrat) in Russland entspricht etwa dem hiesigen Aufsichtsrat. (Anm. d. Ü.)
8 http://www.svobodanews.ru/content/article/107456.html
MICHAIL CHODORKOWSKI
KAPITEL 1
»Borissytsch« – ein Fremder, der doch Respekt verdient
Wenn ich von der Strafkolonie [im sibirischen Krasnokamensk]erzähle, muss man wissen, dass ich mich nur relativ kurz dort aufgehalten habe: von Oktober 2005 bis Dezember 2006. Danach wurde ich in das Untersuchungsgefängnis in Tschita und anschließend, im Februar 2009, zurück in das Untersuchungsgefängnis 99/1 in Moskau überstellt.
Die Lebensbedingungen sind in der Strafkolonie generell viel besser als im Gefängnis. Im Gefängnis ist man den ganzen Tag – mit Ausnahme der einen Stunde Hofgang – mit ein und denselben Leuten in einem kleinen Raum eingesperrt. In der Strafkolonie ist es genau umgekehrt: In der Baracke und auf dem Gelände brodelt das Leben, man kann herumlaufen, bis es einem zuviel wird.
Die Sonne, die man im Gefängnis nicht zu sehen bekommt, der Himmel, im Sommer das Grün – das ist alles sehr wichtig für einen Menschen. Nach ungefähr einem Jahr merkt man erst wirklich, wie sehr einem diese einfachen Dinge fehlen. Auch die Gesundheit leidet zweifellos: die Augen, die Muskeln, das Immunsystem …
Die Organe des menschlichen Körpers sind nicht für den Kerker gemacht, sie »protestieren« lautstark, besonders bei ganz jungen Leuten.
Die Verlegung aus dem Gefängnis in die Strafkolonie war eine Geschichte für sich. Wohin es ging, war geheim. Wie lange die Fahrt dauern würde, war geheim. Allein im »Stolypin-Wagen«. 9 Dazu haufenweise Begleitposten. Einer steht mir die ganze Zeit gegenüber und sieht mich unverwandt an. Schon auf der ersten Station (nach einer Stunde) kam die Ansage aus einem Bahnhofslautsprecher: »Der Zug von Moskau nach Tschita fährt von Gleis zwei ab.« So viel zur Geheimhaltung …
Sechs Tage und Nächte lang las ich (ich hatte eine ganze Tasche voll Bücher im Gepäck), und dann – sei gegrüßt, Krasnokamensk!
Raus aus dem Waggon, rein in den Gefangenentransporter, allerdings ohne die üblichen Hunde. Die neugierigen Blicke der örtlichen Wachmannschaften.
Die Zone. Das »Abschreiten der Formation« beim Eintreten – kläffende Tölen und die Soldaten aus der Wachabteilung, die sie zurückhalten. Mir ist zum Lachen, und ich bin gespannt. Eine Gruppe Offiziere nimmt mich in Empfang. Ich soll meine Mütze abnehmen und mich vorstellen. Ich nehme sie ab, obwohl die Forderung rechtswidrig ist, das weiß ich, ich habe das Gesetz auswendig gelernt, will aber wegen solcher Kleinigkeiten keinen Ärger machen.
Wir gehen weiter zum Gebäude mit den Arrestzellen (später bin ich hier häufiger zu Gast). Durchsuchung. Eingezogen wird alles, was in dieser konkreten Zone »nicht gestattet« ist. Ich erhebe keinen Einspruch, aber ich habe auch nichts besonders Wichtiges dabei. Die Bücher und Hefte lassen sie mir, die werden nur durchgeblättert – das ist die Hauptsache.
Einige Tage später die »Zuweisung«. Die Kommission, angeführt vom Lagerkommandanten, fragt: »Was machst du im normalen Leben?«. Ich sage nichts dazu, gucke aber befremdet. Er geht zum »Sie« über, »fürs Erste« wahrscheinlich.
Welche Ausbildung haben Sie, welche Arbeit wollen Sie verrichten?
Ich könnte unterrichten, ich habe mehrere berufliche Fachrichtungen.
Wir bieten Ihnen eine Arbeit in der Näherei an und raten Ihnen, das nicht abzulehnen …
Einige Monate später erzählen die Jungs aus der Operativabteilung (sie sind alle fast noch Kinder), sie hätten mich eigentlich in die Bäckerei schicken wollen, die vom Lager abgetrennt ist, um keine Probleme zu haben. Aber dann sei ein Anruf aus Moskau gekommen und sie hätten mich in die Näherei stecken müssen.
Um als Näher arbeiten zu können, braucht man eine Ausbildung. Ich sah mir die Anlagen an und wusste: Das ist eine Falle. An solchen Maschinen schafft man die Norm nicht, die Nähte werden Mist. Die lassen mich auflaufen.
Ich schrieb meine erste Eingabe und verwies auf meine schlechten Augen. Die Prüfung »schaffte ich nicht« – nachdem ich angekündigt hatte, wenn ihr fälscht, gibt es einen Skandal.
Die erste Reaktion war klar: Wir pfeifen auf deine Augen, wir pfeifen auf die Prüfung! Es wird trotzdem gearbeitet.
Ach so ist das? Als nächstes schreibe ich drei Eingaben: an den Leiter der Kolonie, den Staatsanwalt und an Gostrudnadsor . 10
Meine Ingenieursausbildung, meine Erfahrung im
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