Mein Weg - Ein politisches Bekenntnis
offenbar nicht mehr die alte. Am vierten Tag kann ich nicht mehr laufen. Mir ist schwindlig. Der Arzt kommt: Der Lagerleiter habe meine Bedingung akzeptiert, es sei bekanntgegeben worden, dass ich auf seine Entscheidung hin in Einzelhaft verlegt wurde. Die Aussage des Arztes wird vom Leiter selbst und vom Blatnye -Komitee bestätigt. Ich komme auf die Krankenstation, wo ich ein paar Tage lang gnadenlos mit meinem Körper abrechne (genauer gesagt: er mit mir).
Rückkehr ins Lager. Wieder Strafarrest, wieder ein Gerichtsverfahren, wieder wird die Strafe aufgehoben.
Dann die neue Anklage. Verlegung nach Tschita. Der Leiter der Operativabteilung persönlich schleppt meine Sachen ins Auto. Sogar die Matratze und eine Decke bringt er. »Kommen Sie bloß nicht zurück!« Wir verabschieden uns überaus freundlich.
Gulag oder schon etwas anderes?
Hat sich das Gulag-System verändert? Ja und nein. Die allgemeinen Veränderungen sind selbstverständlich enorm. Erstens lässt man niemanden mehr hungern. Einzelne Fälle kamen und kommen vor, es gibt sogar ganze »Hungerzonen«, doch das ist eher auf mangelnde organisatorische Fähigkeiten einzelner Lagerleiter oder auf Diebstahl zurückzuführen, nicht auf eine systematische staatliche Politik wie unter Stalin. Zweitens gibt es, anders als damals, keine lebensbedrohlich schwere Sklavenarbeit mehr. Eher gibt es in den »Zonen« überhaupt keine Arbeit. Die Menschen verdummen, verrohen, verlieren (so sie sie denn hatten) ihre sozialen Kompetenzen. Aber es wird niemand mehr dafür bestraft, dass er nicht arbeitet – für Todesfälle und Fluchtversuche dagegen sehr wohl. Folglich gibt es schlicht keine Arbeit, oder aber sie ist weder sinnvoll noch konstruktiv. Drittens kann man einen Häftling nicht mehr einfach töten. So etwas zieht gewaltige Papiermengen nach sich. Schlagen und quälen – das geht, aber töten ist tatsächlich verboten. Natürlich wird gegen das Verbot, wie auch gegen jedes andere, verstoßen, aber das ist doch eine andere Situation als zu einer Zeit, als das Töten einfach erlaubt war. Viertens sind die Lebensbedingungen zwar hart, aber nicht lebensbedrohlich. So ist man beispielsweise bemüht, im Winter keine Minustemperaturen in den Baracken zuzulassen; es gibt Wasser, wenn auch nur kaltes; ziemlich regelmäßig kann man duschen und seine Wäsche waschen. Natürlich klingt das lächerlich und traurig, aber gerade von solchen Kleinigkeiten hängt es ab, ob einem ein Recht zu leben eingeräumt wird oder nicht.
Nun zu den Ähnlichkeiten mit dem Gulag: Nach wie vor ist ein Häftling nicht ganz Mensch, sondern eher ein Stück Vieh, dessen Wert für seinen »Herren« im Vergleich zur ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts allerdings wesentlich gestiegen ist. Man darf ihn nicht töten, aber schlagen kann und muss man ihn. Man darf ihn nicht hungern lassen, aber über die Qualität seiner Nahrung braucht man sich keine Gedanken zu machen. Moral ist in Bezug auf den Gefangenen überhaupt ein Begriff ohne Relevanz: lügen, Menschen entzweien, gegeneinander aufhetzen, seine Verachtung äußern – all das kann und muss man. Zwar gibt es hier, wie überall, auch Ausnahmen. Es gibt Angestellte, die sich derlei Dinge grundsätzlich nicht erlauben, und es gibt Häftlinge, die derlei Dinge grundsätzlich nicht mit sich machen lassen. Aber das gab es auch im Gulag. Nur riskierte der Häftling damals sein Leben, während er heute nur seine Gesundheit und die Chance einer vorzeitigen Entlassung aufs Spiel setzt.
Apropos Gesundheit. Die Gesundheit ist in unserem Land überhaupt ein zweitrangiger Wert, und die Qualität der Gesundheitsfürsorge lässt auch in der Freiheit zu wünschen übrig. Wie es in der »Zone« aussieht, kann man sich auf dieser Grundlage leicht vorstellen. Obwohl ich persönlich Glück hatte – und zwar schon zweimal. Das erste Mal, als ich aufgeschnitten wurde, geriet ich an einen Militärchirurgen mit geschickten Händen. Das zweite Mal wiederum, als ich genäht wurde, war der angebliche Zahnarzt in Wirklichkeit zum Glück ein Gesichtschirurg – dank ihm ist die Narbe in meinem Gesicht heute kaum zu sehen. Ihm gilt mein Respekt. Aber das sind wohl eher die Ausnahmen. Viel häufiger sind solche Fälle wie dieser, dessen Zeuge ich wurde:
Ein Häftling, den ich kannte, wurde brutal zusammengeschlagen. Er kam in die Krankenstation, die von unserer Baracke nur durch einen Zaun getrennt war, und da man durch den Stacheldraht hindurch miteinander
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