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Mein Weg - Ein politisches Bekenntnis

Mein Weg - Ein politisches Bekenntnis

Titel: Mein Weg - Ein politisches Bekenntnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Chodorkowski
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Betrieb und meine Vergangenheit in diversen Baubrigaden versetzen mich in die Lage, auf zwei Seiten eine ganze Liste mit Verstößen gegen die Sicherheitsbestimmungen darzulegen, die eine Einstellung der Produktion bis zur Behebung der Mängel erforderlich machen würden.
    Höflich überreiche ich dem Leiter die Schreiben.
    Zwei Tage später bin ich Komplettierer (Verlader) in derselben Werkstatt. Das ist in Ordnung. Das ist Arbeit auf Zeit, ohne schlechte Anlagen: Hier kann ich die Qualität garantieren, weil sie nur von der Arbeit meiner Hände abhängt.
    Bald darauf lässt der Leiter der Kolonie mich zu sich holen – zum »Reden«. Ich weiß gleich, er hat einen Befehl erhalten und will sich ein Bild machen, wie er ihn am besten umsetzen kann. Ich sage ihm direkt: Wenn man Ihnen sagt, Sie sollen mich »fertigmachen«, sollten wir uns besser absprechen, wie das genau aussehen soll, damit Sie Ihren Bericht schreiben können und ich Ihnen nichts nachtragen muss.
    Sehr gern hätte er das gemacht, aber entweder traute er sich nicht oder er hielt mich für schwach und versuchte, auf eigene Faust klarzukommen.
    Eine Disziplinarstrafe, dann noch eine, dann der Karzer 11 – und nun gehe ich vor Gericht. Die Administration ist schockiert. Eine Gerichtsverhandlung in der Kolonie wird anberaumt. Der Vorsitzende des Stadtgerichts kommt. Ein »Zeuge« aus den Reihen der Gefangenen wird vorgeladen. Ich bin auf alles gefasst. Ich habe meine Erfahrungen mit der tendenziösen »Basmanny-Justiz«. 12 Da zeigt der Zeuge plötzlich mit dem Finger auf den Leiter der Operativabteilung und sagt zum Richter: »Er hat mich gezwungen zu lügen, hat mir Zigaretten gegeben. Hier sind sie. Ich werde die Wahrheit sagen.«
    Wieder ein Schock. Dieses Mal auch für mich. Meine Nerven sind am Ende. Ich reiße mich zusammen. Der Richter zum Leiter: »Wenn Sie den Zeugen bestrafen, gebe ich das Protokoll in den Geschäftsgang. Die Disziplinarstrafe wird aufgehoben.«
    Übrigens sagte der Leiter der Kolonie (bereits ein anderer) drei Jahre später, während der Verhandlungen zur Strafaussetzung auf Bewährung, 13 dem Richter ganz direkt: »Ich hatte den ›Auftrag‹, Chodorkowski strenge Haftbedingungen aufzuerlegen, aber wegen seiner ständigen Eingaben und Klagen ging das nicht.«
    Für mich wurde das bald zum regulären Rhythmus: Disziplinarstrafe – Karzer – Gerichtsverfahren – Aufhebung der Disziplinarstrafe … Dazwischen Arbeit in der Näherei, Gespräche mit den Leuten der Strafkolonie.
    Eine bunte Gesellschaft ist das: von ungebildeten Schafhirten aus den umliegenden (»gerade mal« 300 bis 400 Kilometer entfernten) Siedlungen bis zu Bergarbeitern von den Uranlagerstätten mit mittlerer technischer Ausbildung. Von ganz gewöhnlichen, gesetzestreuen Bürgern bis hin zu »aussichtsreichen« Führungsfiguren im Verbrechermilieu. Von ganz normalen Menschen bis zu bösartigen Kriminellen, die noch nach dem Jugendstrafrecht zehn Jahre für Serienmorde aufgebrummt bekommen haben und jetzt den Rest ihrer Haft in einer Strafkolonie für Erwachsene absitzen, und die nicht begreifen, dass der nächste Mord ihnen lebenslang einbringt. Von moralischen Hemmschwellen braucht man hier nicht zu reden.
    Diese bizarre Mischung wird ständig im selben Kessel verrührt. Im Zaum gehalten wird sie weniger unmittelbar von der Administration oder den Chefs des kriminellen Milieus als vielmehr von einem allgemeinen Verständnis dessen, wo die Grenzen der persönlichen Freiheit liegen, und dem Gefühl einer gewissen Gemeinsamkeit und gegenseitigen Abhängigkeit. Wirklich asoziale Persönlichkeiten sind in der Kolonie selten, sie werden von der Administration und vom Kollektiv im Lager »zurechtgestutzt«. Die Methoden sind natürlich unterschiedlich: von der Aussiedlung in eigens dafür geschaffene »Ghettos« bis hin zu »schwerer Körperverletzung«.
    Meine Position war in dieser Hinsicht eine ganz eigene, angefangen schon damit, dass die Lagergesellschaft über ein Jahr lang nicht imstande war, mich einer bestimmten »Farbe«, also einer Kaste innerhalb der Lagerhierarchie zuzuordnen. Da gibt es ja ziemlich einfache Kriterien: Wer mit der Administration »kooperiert«, ist ein »Roter«; wer anderen »seinen Willen aufdrängt« oder »herumgammelt«, ist ein »Schwarzer«. Wer arbeitet und sich den »Autoritäten« unterordnet, ist ein »Bauer«. Wer nicht arbeitet, wer sich Gehör verschafft und die Idee der Unabhängigkeit des Einzelnen vom Staat vertritt,

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