Mein Weg - Ein politisches Bekenntnis
die älter sind, empfinden dieses Problem, vielleicht wegen der Stresssituation, als nicht so schwerwiegend. Jedenfalls kann man getrost darüber reden. Die Familie ist etwas anderes. Das ist buchstäblich ein Minenfeld, auf dem die kleinste Bewegung schon schlimmste Konflikte, Depressionen und sogar Selbstmorde nach sich ziehen kann.
Zwanghaft wiederkehrende Gedanken und Erinnerungen sind eine Art Depression, mit der ziemlich viele Häftlinge zu tun haben, von der ich im Großen und Ganzen aber nicht betroffen war. Ich kann mich allenfalls an ein paar schlaflose Nächte erinnern. Natürlich war besonders das erste Jahr in Haft, als jeden Tag auf mehreren Fernsehkanälen und Radiostationen von der Zerschlagung des Unternehmens berichtet wurde, sehr unangenehm. Die Propaganda belastete meine Psyche. Aber ich kann mein Bewusstsein ziemlich gut kontrollieren. Ich machte mich zum Beispiel daran, in Gedanken einen Brief zu verfassen oder ein Haus zu bauen oder irgendein Zimmer einzurichten. Irgendwann wurde mir klar, dass ich mir am besten Luft verschaffe, indem ich meine Gedanken zu Papier bringe. Ich begann, Redetexte, Briefe und Eingaben zu schreiben, aber keine Artikel. Etwas, womit man sich »abreagiert«, eignet sich nicht dazu, dass andere es lesen. Später liest man nach und sieht: Es ist unangemessen. Aber gleichzeitig wird es so zur Gewohnheit, Gedanken zu Papier zu bringen. In den letzten acht Jahren habe ich das gelernt. Vielleicht nicht so geschickt wie ein Profi, aber für mich ist auch das schon eine Errungenschaft. Schließlich habe ich in der Schule immer meine Freundinnen gebeten, mir die Aufsätze zu schreiben. Ich selbst mochte und konnte das nie.
Um auf meine vorigen Gedanken zurückzukommen, möchte ich von einem erstaunlichen Vorfall in der Kolonie berichten. Generell war ich immer ziemlich unbesorgt wegen meiner Familie. Erstens sind sie alle wirklich tapfer. Zweitens wusste ich, dass ich immer aktuelle Informationen erhalten würde und um Hilfe bitten könnte. Aber plötzlich bin ich, wie man so sagt, völlig neben mir. Ich kann den ganzen Tag an nichts anderes denken als an meine Frau. Daran, dass es ihr nicht gut geht. Völliger Blödsinn. Und doch ist das Gefühl so stark, dass ich in meinem Tagebuch davon schreibe (das einzige Mal) und mich am nächsten Tag mit meinem Anwalt in Verbindung setze. Nein, anscheinend ist alles in Ordnung. Mir fällt jedenfalls ein Stein vom Herzen. Trotzdem frage ich meine Frau, als sie zu Besuch kommt – und erfahre, dass es sie »erwischt« hatte: fast 40 Grad Fieber den ganzen Tag. Danach ist mir so etwas nie mehr passiert, aber jetzt kann ich so manches glauben.
Haft und Freiheit
Das Gefängnis ist eine Art Vergrößerungsglas für die Beobachtung gesellschaftlicher Prozesse. Wenn der Lebensstandard im Land deutlich sank, wurde einige Zeit später in den Haftanstalten im wahrsten Sinne des Wortes immer Gras gefressen. Das letzte Mal, habe ich gehört, sei so etwas in den Jahren 1999 und 2000 passiert: Die Zahl der Unterernährten sei damals in die Hunderte gegangen. Das habe ich zum Glück nicht mehr erlebt, aber ich war verblüfft, wie viele komplette Analphabeten es unter den Jungen gibt. Also Leute, die mit gut 20 Jahren überhaupt nicht lesen oder schreiben können.
Ich konnte beobachten, wie sich der Wechsel des »Kontingents« im Gefängnis Matrosskaja Tischina vollzog, als anstelle der Psychopathen und Verbrecher von der Straße auf einmal massenhaft Leute eintrafen, denen Unternehmensplünderer in Uniform ihr Eigentum abgenommen hatten. Ich habe gesehen, wie sie, nachdem sie ihr Eigentum hatten abgeben müssen, mit oder ohne Gefängnisstrafe wieder herauskamen. Ich habe gesehen, wie aufgrund von internen Fehden zwischen verschiedenen Ämtern Mitarbeiter der Strafverfolgungsbehörden und ihre geschäftstüchtigen Handlanger ins Gefängnis kamen, wie misstrauisch sie Medwedews Initiativen aufnahmen und wie sie, nach einiger Zeit, dank dieser Initiativen wieder freikamen und sich ihr Hab und Gut zurückholten. Sei es vorerst auch nur teilweise. Nein, im Gefängnis bekommt man trotz aller Einschränkungen vieles von dem mit, was draußen in der Freiheit passiert.
Zweifellos verändert sich der Mensch in der Haft. Die Haft gleicht einer Form der Versehrtheit, bei der der Ausfall eines Sinnes durch eine Verschärfung der übrigen kompensiert wird. An die Stelle der äußeren Reize, von denen es nun weniger gibt, tritt eine gesteigerte Sensibilität
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