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Mein Weg - Ein politisches Bekenntnis

Mein Weg - Ein politisches Bekenntnis

Titel: Mein Weg - Ein politisches Bekenntnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Chodorkowski
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Alltagstraditionen, Glaube, Kunst und Wertorientierungen.
    Die Kultur des Imperiums ist zu unscharf gefasst, als dass sie ihre Träger tatsächlich einen könnte. Sowohl das römische als auch das sowjetische wie alle anderen derartigen Experimente sind fehlgeschlagen. Und es sieht so aus, als stünde auch das amerikanische Experiment vor dem Scheitern.
    Menschen wollen nicht nach fremden Schablonen leben, und seien sie auch noch so wunderbar. Gleichzeitig bleibt die Idee der Staatsbürgernation auch weiterhin aktuell. Für ein multikulturelles Land genügt ein staatsbürgerliches Gemeinwesen allein jedoch nicht mehr. Die Welt hat sich verändert. Die Menschheit will nicht nur in Sicherheit (einheitliche Armee), nicht nur in Wohlstand (starke Wirtschaft), sondern auch komfortabel leben.
    Der Versuch, das Streben des russischen Volkes nach einem nationalen – nicht nach einem ethnisch oder staatsbürgerlich, sondern nach einem kulturell fundierten – Staatswesen in Russland zu ignorieren, wäre ein verhängnisvoller Fehler.
    Andererseits ist es ganz offensichtlich nicht möglich, eine geschlossene, absolut eigenständige Kultur der russischen Gesellschaft zu schaffen. Die Entwicklung der Kommunikation, Integrationsprozesse, ein gewaltiges Territorium mit ausgedehnten Landesgrenzen, eine vergleichsweise kleine Bevölkerungszahl (zwei Prozent der Weltbevölkerung) und jahrhundertealte Traditionen des wechselseitigen Austauschs mit Europa in Kultur, Wissenschaft, Handel, Wirtschaft und Ähnlichem lassen keinen vernünftigen »isolationistischen Weg« zu.
    Die Wahl zwischen der asiatischen und der europäischen Kulturtradition haben vor über eintausend Jahren bereits unsere Vorfahren getroffen. Das Christentum (und sei es auch ein eigener, besonderer Zweig), europäische sprachliche Wurzeln und später europäische Wissenschaft und Technik, Kunst und Literatur, Industrie und vieles andere mehr, einschließlich der Losung »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« als Ideal, als Wertekompass des gesellschaftlichen Lebens – all das waren Entscheidungen für Europa. Wir sind ein Teil der europäischen Völkerfamilie, der auch Beziehungen nach Asien unterhält, die im Übrigen keinen Deut stärker sind als beispielsweise Frankreichs Beziehungen zu den Ländern des Maghreb.
    Alle sonstigen Gedanken und Strömungen sind nicht mehr als ein Versuch, originell zu sein, der jedoch der historischen Perspektive entbehrt.
    Auch in der Wirtschaft müssen wir eine Richtungsentscheidung treffen, uns auf ein Paradigma festlegen, wenn Sie so wollen.
    In der westlichen Welt gilt weiterhin das sogenannte »Konsumparadigma«, das anderswo gerade erst übernommen wird. Demnach ist die Menge des Konsums, und zwar namentlich des materiellen Konsums, Ziel und Kriterium der Entwicklung. Die Maßnahmen zur Überwindung der Krise von 2008 sollten ja gerade Konsumanreize schaffen. Das ist eine fast dreihundert Jahre alte Tradition, eine Tradition aber, die uns jetzt zum Schaden gereicht.
    Eine Opposition gegen diesen Kurs gibt es bereits, sie gewinnt immer mehr an Einfluss, und ich rechne mich zu ihren Anhängern.
    Ich hielte es für falsch, beim Aufbau der Wirtschaft den Versuch zu unternehmen, Amerika beim Verbrauch von materiellen Ressourcen »einzuholen und zu überholen«. Wir sind tatsächlich eines der wenigen Länder, die sich das leisten könnten; wenn wir uns aber auf das Vabanquespiel namens »Aufholjagd« einließen, würden wir, wie es das in unserer Geschichte bereits gegeben hat, damit unsere Zukunft untergraben.
    Wir brauchen keine nachholende Reindustrialisierung, schließlich werden wir mit China und zukünftig auch mit Indien konkurrieren müssen. Mit Ländern also, die Wettbewerbsvorteile haben, trotz unserer scheinbaren Überlegenheit bei den Rohstoffen.
    Wir müssen ein neues Industriemodell und ein starkes postindustrielles Wirtschaftssegment etablieren. Genau das ist es, was ich als Wirtschaft des Wissens bezeichne. Eine solche Wirtschaft ist nicht auf Kapazitäten zur massenhaften Verbreitung von Industriegütern angewiesen, die über das für die ökonomische Sicherheit des Landes notwendige Maß hinausgehen. Ebenso wenig ist sie darauf angewiesen, die Bürger des Landes zu einem demonstrativen, sinnlosen Konsum materieller Ressourcen anzuhalten.
    Wir können und dürfen mit den Einnahmen aus dem Verkauf von Rohstoffen nicht in erster Linie Fabriken mit Technologien der dritten Welle 204 aufbauen, es geht vielmehr um die

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