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Mein Weg - Ein politisches Bekenntnis

Mein Weg - Ein politisches Bekenntnis

Titel: Mein Weg - Ein politisches Bekenntnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Chodorkowski
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Übernatürliches. Meine Genehmigung bekam ich nicht, weil der Komsomol dringend jemanden für seine Abrechnungsabteilung suchte. Das Thema Beiträge und Abrechnungskarten lag mir damals fern – einmal davon abgesehen, dass meine Mutter zeitlebens als Chefbuchhalterin in verschiedenen Staatsbetrieben gearbeitet hatte und sich sehr gut mit Zahlen auskannte. Aber ich habe mich gern und mit voller Kraft eingearbeitet – ab dem 22. Oktober 1986. Allmählich lernte ich meine neuen Kollegen kennen. Es waren ziemlich selbstständige und ehrgeizige Jungs. Jeder von ihnen hatte seine ganz besondere Ausstrahlung. Der Stellvertreter für organisatorische Arbeit fiel aber aus dem Rahmen. Er war mein direkter ›Aufseher‹ und Helfer. Er hieß Michail. Für mich war er ein erwachsener Mann (wie übrigens auch alle anderen Mitglieder des Komsomol-Ausschusses), was ich natürlich sehr schmeichelhaft fand. Er war 23, ich 17 – eine Riesenkluft. Sie hatten alle schon ihr Studium abgeschlossen, ich fing gerade erst an. Etwas enger kam ich mit Michail in Kontakt, als ich meine erste Abrechnung schrieb, im Dezember 1986. Die Abrechnung ging nicht auf, die Karten stimmten nicht überein, ich fing immer wieder von vorne an. Wir saßen bis ein Uhr nachts. Eigentlich ist genau dieser Moment für mich auch der Ausgangspunkt unserer Beziehung.
    Wie er mir den Hof gemacht hat? Nach allen Regeln der Kunst. Klassisch. Aber was wusste ich schon davon mit meinen 17 Jahren? Es kommt zwar vor, dass ein Mensch mit 17 schon völlig erwachsen ist, aber ich war das nicht. Ich war im Grunde noch ein kleines Mädchen. Und ich hatte es auch nicht eilig, irgendwo hinzukommen – schnell zu heiraten, Kinder zu kriegen, wie viele das wollen. Ich überließ mich eher einer Art brownschen Molekularbewegung – mal trug es mich zum Studium, mal woanders hin. Die Entscheidungen hat er getroffen. Er beobachtete mich von Weitem und passte auf, dass niemand mich und meine idealistischen Ideen verdarb.
    Ich war absolut idealistisch. Und das blieb so bis 2003. Bis wir so richtig eins auf dem Deckel bekommen haben. Inna, wach endlich auf, nimm die rosa Brille ab … Aber er hat diesen Idealismus eher noch unterstützt. Wie im Kleinen Prinzen setzte er seine Rose unter eine Glasglocke – sollte nur einer versuchen, sie anzurühren! Meine Vorstellung vom Leben war durch und durch märchenhaft. Ich weiß, dass das gefährlich ist. Als das alles zusammengebrochen war, hatte die Blume zwar ihre Stacheln noch, aber sie waren ganz verkümmert, weil sie nie gebraucht worden waren. Und jetzt? Ich brauche keine Stacheln. Ich sehe, wo es gefährlich und wo es sicher ist. Ich habe mir eine Schutzschicht zugelegt.«
    Viele russische Oligarchen heirateten, nachdem sie reich geworden waren, ein zweites Mal (einige auch ein drittes und viertes Mal). Gewöhnlich Mädchen, die deutlich jünger als sie selbst und wie mit dem Kurvenlineal zugeschnitten waren: hochgewachsen, schlank, mit endlos langen Beinen. So ungefähr hatte ich mir auch Chodorkowskis Frau vorgestellt. Und die Accessoires dazu: Brillanten, Wahnsinnsabsätze und einen teuren Pelz. Die Standardausstattung eben. Als dann eine zierliche, eher kleine Frau vor mir stand, die ihre blonden Haare, die die großen dunklen Augen noch betonten, zu einem Knoten zusammengebunden hatte und eine kurze Steppjacke, eine Hose und bequeme Stiefel trug, musste ich unwillkürlich loslachen, weil sie so gar nicht dem Standard entsprach. Keine auffälligen Edelsteine. Eine ziemlich extravagante große Uhr. Eine schöne Tasche. Eine introvertierte, kontaktscheue und reizende Frau mit origineller Ausdrucksweise.
    Als die Chodorkowskis und die Newslins 1991 an die Uspenskoje-Chaussee zogen, hätten sie durchaus schon zwei Datschen mieten können. Aber irgendwie fanden sie, dass sie das nicht bräuchten. Bis dahin hatten Chodorkowski und Inna eine Wohnung am Pawelezker Bahnhof gemietet. Das Haus lag direkt an der Metro, nebenan war ein Restaurant, der Gartenring, Straßenbahngleise. Es gab jede Menge Lärm, Smog und Kakerlaken. Inna sagt: »Für ein Paar ohne Kinder ist das klasse, aber mit einem Säugling weniger. Anfang Juni beschlossen wir, aus der Stadt herauszuziehen. Da ich mein ganzes unbewusstes und bewusstes Leben in Moskau verbracht und auch im Stadtzentrum gearbeitet und studiert hatte, fiel es mir schwer, mich an den Wald, die Stille und die Mücken zu gewöhnen. Ich war mit dem Kind ganz auf mich gestellt, die Verantwortung war

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