Mein wildes Herz
Anstalten, sie wieder zum Büro zu geleiten, als die Tür an der gegenüberliegenden Seite des Raumes aufflog und ein kleiner Junge, der von unten heraufkam, in den Raum stürzte. Seine Kleider waren abgetragen und zerrissen, seine dunklen Haare zottig und ungekämmt und Tränen standen ihm in den großen dunklen Augen. Er raste auf den Ausgang zu. Und vielleicht wäre ihm die Flucht auch gelungen, hätte Leif nicht die Arme ausgestreckt und das Kind hochgehoben.
„Lass mich los, du Mistkerl! Ich wollte diese verdammte Spule nicht zerbrechen, und ich lass mich deswegen nicht wieder schlagen. Ist mir ganz egal, wie nötig mein Vater die Arbeit braucht.“
„Mal langsam, Bürschchen“, beruhigte Leif den Jungen, bändigte seine wild um sich schlagenden Arme und drückte das Kind an seine Brust. „Niemand wird dir etwas tun.“
„Lass mich los, hab ich gesagt!“
Krista blickte Harding wütend an. „Was geht hier vor, Mr. Harding? Dieses Kind ist nicht älter als sechs Jahre. Es ist gegen das Gesetz, dass es an einem Ort wie diesem arbeitet.“
„Turnbull!“, brüllte Harding, und ein stämmiger Mann mit großem Schnurrbart kam angerannt. „Bring dieses Kind wieder hinunter zu seinem Vater.“
„Sie haben meine Frage nicht beantwortet, Mr. Harding.“
Turnbull griff nach dem Kind, und der kleine Junge fing an zu schluchzen. Er umklammerte Leifs Hals und wollte nicht loslassen. Schützend legte Leif die starken Arme um ihn.
„Ich werde ihn zu seinem Vater bringen“, sagte er.
„Das dürfen Sie nicht“, erklärte Turnbull. „Unten haben nur Arbeiter Zutritt.“
„Ach, wirklich?“ Krista warf einen Blick auf Harding. „Vielleicht sollten wir alle zusammen das Kind zu seinem Vater bringen.“ Sie nickte Leif zu und ging zur Treppe. Harding fluchte leise, während er und Leif ihr folgten.
Als der kleine Rodney Schofield zu seinem Vater zurückgebracht worden war – dem Leif das Versprechen abnahm, dass der Junge nicht bestraft werden würde –, hatte Krista herausgefunden, was Harding vor ihr hatte verbergen wollen. Das Untergeschoss der Fabrik besaß nur wenige, hohe Fenster, die eine dicke Schmutzschicht trübte. Der Raum war verräuchert und so voller Fuseln und Staub, dass Krista kaum atmen konnte.
Hier wurde an großen Webstühlen das Garn der Spinnmaschinen vom oberen Stockwerk zu Wollstoffen verarbeitet. Und jeder Zoll Boden, auf dem keine Webstühle standen, war von Menschen besetzt. Jeder hatte gerade genug Platz, um seine Arbeit zu verrichten, und der Geruch der verschwitzten Körper hing schwer in der Luft und erzeugte Übelkeit.
Noch schlimmer war, dass mindestens dreißig der mehr als hundert Arbeiter Kinder waren, viele von ihnen weit jünger als neun Jahre.
„Sie brechen das Gesetz, Mr. Harding. Offensichtlich scheren Sie sich nicht drum.“
„Das hier ist eine Fabrik, Miss Hart. Wir brauchen Arbeiter, die gerissene Fäden zusammenknüpfen oder leere Garnspulen gegen volle austauschen. Kinder sind als Einzige klein genug, um in die Zwischenräume der Webstühle schlüpfen zu können.“
„Sie sind verabscheuenswürdig.“ Krista wollte gehen, doch Harding hielt sie am Arm fest.
„Eine Fabrik zu betreiben ist Männersache, Miss Hart. Sie sind eine Frau. Ich war ein Narr, Sie hierher zu holen. Ich hätte wissen müssen, dass Sie es nicht verstehen würden.“
„Ich verstehe zur Genüge, Mr. Harding. Und jetzt lassen Sie bitte meinen Arm los.“
Drohend kam Leif näher, und Harding ließ Krista los. Ein verbissener Ausdruck lag auf dem Gesicht des Mannes, als er sich jetzt umdrehte und davonstolzierte.
Krista spürte Leifs Hand auf ihrer Taille, als sie die Fabrik verließen. Er sagte nichts, während er sie zur Kutsche führte und ihr hinein half. Anstatt wie üblich ihr gegenüber Platz zu nehmen, setzte er sich neben sie.
„Es gibt immer Elend im Leben“, sagte er leise, „ganz gleich, wo man lebt. Es tut mir leid, dass du das hier sehen musstest.“
Krista schüttelte den Kopf und bemühte sich, die Tränen zu unterdrücken. „Kein Wunder, dass im ganzen Land die Arbeiter streiken. Ich könnte mir nicht vorstellen, unter solch bedauernswerten Bedingungen zu arbeiten.“ Zitternd holte sie Luft. „Ich muss die Behörden davon unterrichten, dass Harding das Gesetz gegen Kinderarbeit bricht. Ich muss diesen Kindern helfen.“
Leif nahm ihre Hand und streifte ihr den staubigen Handschuh ab. Dann führte er ihre zitternden Finger an die Lippen und küsste jeden
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