Mein Wille geschehe
später sagen zu können, dass
sie seine Forderung erfüllt hatte und die Verhandlung nicht übernehmen könne.
Fünf Minuten später ging die Tür auf, und der
fünfundzwanzigjährige Corey Dean Latham wurde
von zwei Wachen hereingeführt, an Händen und
Füßen mit Ketten gefesselt. Die Insassen des Ge-
fängnisses von King County waren in vier Arten
von Uniformen gekleidet: Wer eine kleinere Straf-
tat begangen hatte, trug blau, wer im Gefängnis
arbeitete, gelb. Die Anstaltskleidung angeklagter Schwerverbrecher, die auf ihren Prozess warteten, war rot, und dann gab es noch die weiße
Kleidung für Kapitalverbrecher. Corey Latham
war weiß gekleidet, und auf seinem Hemd und
den Hosen stand in großen Lettern »Hochsicher-
heitstrakt«. Als er sich aufrecht auf den Stuhl
setzte und die gefesselten Hände auf den Tisch
legte, war Dana überrascht, aber keineswegs er-
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freut. Das war nicht der Mann, den sie erwartet
oder auch insgeheim erhofft hatte. Sie war auf
einen religiösen Fanatiker gefasst gewesen, einen abstoßenden ungepflegten Kerl mit wirrem Blick.
Oder vielleicht auf einen kalten berechnenden
Menschen. Das hätte ihrer Vorstellung entspro-
chen und ihr die Entscheidung erleichtert. Doch
der große schlanke junge Mann, der ihr so auf-
recht gegenübersaß, war glatt rasiert, hatte kurz geschnittenes braunes Haar, klare blaue Augen
und eine jungenhafte angenehme Ausstrahlung.
Die weiße Anstaltskleidung wirkte geradezu gro-
tesk an ihm.
Dana schüttelte leicht den Kopf, als müsse sie
ihren Blick klären. Latham war Marineoffizier, rief sie sich in Erinnerung. Da lag es nahe, dass er
sich zu benehmen wusste und in jeder Art von
Uniform eine gute Figur machte. Sie wusste, dass
er zwar normal wirken mochte, aber nichtsdesto-
trotz ein skrupelloser Mörder sein konnte. Aus
seiner Akte ging hervor, dass er zweiter Waffen-
offizier auf seinem U-Boot war. Das hieß, dass
der Staat ihn zum Töten ausgebildet hatte. So,
dachte sie triumphierend, jetzt habe ich wieder
Boden unter den Füßen. Es war ja wohl albern,
sich von einem ersten Eindruck irritieren zu las-
sen.
Doch der junge Mann sah sie offen und direkt an
mit seinen blauen Augen, und sein Blick war auf-
richtig und fragend. »Mr Latham, ich bin Dana
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McAuliffe«, setzte sie an. »Ich gehöre der Kanzlei Cotter, Boland und Grace an. Man hat Ihnen bestimmt gesagt, dass wir beauftragt wurden, Sie
zu vertreten, und mich hat man nun gebeten, mit
Ihnen zu sprechen.«
»Ich habe von Ihrer Kanzlei gehört«, erwiderte er höflich. »Aber ich weiß nicht, warum Sie mich
vertreten.«
»Sie haben ein Recht auf einen Verteidiger«, er-
klärte sie. »Das ist gesetzlich festgelegt.«
»Das weiß ich«, sagte er. »Ich verstehe nur
nicht, warum Ihre Kanzlei meinen Fall über-
nimmt. Ich kann Sie nicht bezahlen, so viel Geld
habe ich nicht. Meine Familie auch nicht. Mein
Pastor hier in Seattle sagte mir, die Kirche wollte das übernehmen, aber ich weiß, dass die sich das
auch nicht leisten kann.«
»Nun, ich denke, darüber müssen wir uns vorerst
nicht den Kopfzerbrechen«, entgegnete Dana, da
sie nicht wusste, wer die Rechnung übernahm.
»Reden wir doch lieber darüber, wie wir Ihnen
helfen können.«
Er blieb einen Moment stumm. »Ich weiß nicht,
was ich sagen soll«, äußerte er dann.
»Sie können ganz frei sprechen«, gab Dana zur
Antwort. »Nichts, was Sie hier sagen, wird nach
draußen dringen.« Er reagierte nicht. Sie war
nicht einmal sicher, ob er sie überhaupt gehört
hatte. »Ich unterliege der Schweigepflicht«, fügte sie hinzu.
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»Ich weiß«, sagte er und verstummte wieder.
»Vielleicht sollten wir erst einmal versuchen, uns kennen zu lernen«, schlug sie nach einer Weile
vor. Er seufzte. »Ich wüsste nicht, wo ich da an-
fangen sollte.«
»Na, wie wär’s dann, wenn ich Ihnen erst einmal
etwas über mich erzähle?«, bot sie an.
Als er nicht reagierte, deutete sie sein Schweigen als Zustimmung. »Was das Private angeht: Ich
bin neununddreißig Jahre alt«, begann sie. »Ich
bin mit dem ersten Geiger des Seattle Symphony
Orchestra verheiratet. Und ich habe eine zehn-
jährige Tochter, Molly. Was das Berufliche be-
trifft: Ich bin seit vierzehn Jahren Anwältin. Seit zwölf Jahren bin ich für Cotter Boland tätig und
dort seit vier Jahren Sozius. Ich glaube, dass wir sehr gute Arbeit leisten, aber das müssen Sie na-türlich nicht glauben, wenn Sie nicht
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