Mein Wille geschehe
den Arm aus und legte die
Hand auf seine Hände, ohne nachzudenken. Viel-
leicht um ihn zu trösten oder ihm Kraft zu geben, sie wusste es selbst nicht. Sie wusste nur, dass sie so etwas noch bei keinem ihrer Mandanten
getan hatte.
»Nein«, gab er zu. »Als ich es herausfand, war
ich zuerst sehr verletzt, und dann wurde ich wü-
tend. Hatte ich gar nichts zu sagen? Das war
mein Kind, das sie da weggemacht hatte, ein Teil
von mir, ein Teil von uns beiden, ein wunderbarer Ausdruck unserer Liebe.«
Dana spürte plötzlich einen Anflug von Übelkeit
und zog hastig ihre Hand zurück. »Es ist ver-
ständlich, dass Sie wütend waren auf Ihre Frau«,
bemerkte sie.
»Ich habe einfach nicht verstanden, wie sie so
etwas tun konnte. Es läuft allem zuwider, woran
ich glaube.«
»Wusste Ihre Frau, wie Sie zu Abtreibung ste-
hen?«
»Ich dachte, sie wüsste es«, antwortete er. »Wie
ging es dann weiter?«
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»Na ja, ich beruhigte mich irgendwann, und wir
gingen gemeinsam zur Beratung und redeten viel
darüber, und ich bemühte mich, die Lage mit ih-
ren Augen zu sehen. Ich ging auch in eine Grup-
pe in meiner Kirche, die mir helfen konnte. Nach
einer Weile begann ich ihre Beweggründe ein we-
nig zu verstehen.«
»Und haben Sie ihr verziehen?«
Corey sah Dana mit einem Blick an, der so ver-
letzlich und offen war, dass sie seine Not fast
physisch spüren konnte. »Ich liebe meine Frau«,
sagte er. Die Anwältin nickte. »Verstehe«, sagte
sie. »Wirklich?«, fragte er, und sie war nicht sicher, ob er ihre Reaktion anzweifelte oder nur
Bestätigung suchte. »Wissen Sie, Frauen werden
sehr unter Druck gesetzt. Tu dies, tu das. Du
musst dieses Kind bekommen. Du darfst dieses
Kind nicht bekommen. Mach dich für diese Sache
stark oder für jene. Da zerren Leute an einem
herum, die einen nicht einmal kennen und denen
man auch egal hast. Hauptsache, es läuft nach
ihrem Plan.«
»Und als Ihre Frau sich für eine Abtreibung ent-
schied«, fragte Dana behutsam, denn sie kannte
die Antwort bereits, »ging sie ins Hill House, o-
der?« Er nickte.
»Weiß die Polizei das?«
»Ich weiß nicht, ich vermute schon«, antwortete
er. »Sie haben mich stundenlang verhört und
rauszukriegen versucht, wie wütend ich sei und
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was ich im Stande wäre zu tun. Ich habe ver-
sucht, denen klarzumachen, dass ich in keinem
Fall daran glaube, dass durch zwei Fehler etwas
besser würde. Mein Kind war schon tot. Das wür-
de auch nicht wieder lebendig, wenn ich unschul-
dige Menschen umbringe.«
»Aber das haben sie Ihnen nicht abgenommen.«
Corey zuckte die Achseln. »Wie ich schon sagte,
ein Motiv hätte ich schon gehabt. Aber ich habe
es nicht getan.« Dana nickte langsam. »Tja, das
genügt fürs Erste«, sagte sie und steckte ihren
Block und ihren Stift in ihre Handtasche. »Ich
werde jetzt mal eine Weile rausgehen. Versuchen
Sie, sich keine Sorgen zu machen. Um zwei
komme ich wieder, dann gehen wir zusammen
nach unten zur Anklageerhebung. Dabei wird offi-
ziell Anklage gegen Sie erhoben, und Sie können
sich für unschuldig erklären. Ich sage Ihnen ge-
nau, was Sie sagen müssen und wann. Ansonsten
möchte ich, dass Sie mit niemandem über den
Fall sprechen, nicht mit der Polizei, nicht mit den Medien oder den Leuten hier im Gefängnis. Nicht
einmal mit Ihren Freunden und Verwandten. Ver-
lieren Sie kein Wort darüber. Es ist ganz wichtig, dass Sie sich das merken.«
Damit klappte sie ihren Aktenkoffer zu, stand auf und warf ihm ein Lächeln zu, das, so hoffte sie,
möglichst ermutigend wirkte.
»Bitte«, sagte er, als sie an ihm vorüberging,
»wenn Sie meine Verteidigung übernehmen,
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müssen Sie mir glauben… Ich habe diese Men-
schen nicht getötet. O Gott, irgendjemand muss
mir doch glauben.«
»Ist das der Bote, von dem du mir erzählt
hast?«, fragte Big Dug und hielt Joshua eine Zei-
tung unter die Nase, die er an der Anlegestelle
der Fähre gefunden hatte. Ein Foto von Corey
Latham nahm beinahe die halbe Titelseite ein.
»Ich weiß nicht«, antwortete Joshua. »Es war
ziemlich dunkel, und ich konnte ihn nicht gut se-
hen.«
»Aber sieht dieser Mann ihm ähnlich?«
Joshua zuckte die Achseln. »Nee, der Mann, den
ich gesehen habe, hatte eine Mütze auf.«
»Was für eine Mütze?«
»So eine weiche, die über die Ohren geht.« Big
Dug förderte einen Bleistiftstummel aus seiner
Jackentasche zu Tage und zeichnete eine Strick-
mütze auf
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