Mein Wille geschehe
das Foto des Mannes. »Und jetzt?«
»Könnte er sein«, meinte Joshua. »Sieht ihm
schon ähnlicher. Warum?«
»Weil das der Kerl ist, der im Hill House die Bom-be gelegt hat.«
»Wirklich?« Joshua betrachtete das Bild einge-
hender, dann schüttelte er den Kopf. »Ich bin mir einfach nicht sicher«, sagte er.
Big Dug legte die Zeitung beiseite. »Komm«, sag-
te er. »Wohin?«, wollte Joshua wissen. »Wir su-
chen uns irgendwo ’nen Fernseher.« In ihrer
Lieblingsbar an der First Avenue wurden sie fün-
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dig. Sie brachten genügend Kleingeld für ein Glas Bier zusammen, und der Barkeeper erlaubte ihnen, sich ans Ende des Tresens zu setzen und
das Bier zu teilen. Im Moment lief im Fernsehen
ein Baseballspiel, und die beiden Männer nippten
so selten wie möglich, damit sie sich noch die
Nachrichten ansehen konnten. Das Hauptthema
war natürlich die Verhaftung des jungen Marine-
offiziers, den man des Anschlags auf Hill House
anklagte.
»Und?«, fragte Big Dug, als man sah, wie der
Verdächtige ins Gefängnis gebracht wurde. »Was
meinst du jetzt?«
»Nicht so laut«, zischelte Joshua mit einem Blick auf die anderen Gäste. »Das soll doch keiner wissen, hast du das vergessen?«
»Was meinst du?«, wiederholte Big Dug, diesmal
etwas leiser.
Joshua starrte zu dem Bildschirm hoch und kniff
die Augen zusammen, um besser sehen zu kön-
nen. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Mit der Mütze
auf der Zeitung, das sah eher nach ihm aus. Er
trug auch eine dunkle Jacke.«
»Dann stell dir die dazu vor.«
Joshua seufzte. »Vielleicht war er es«, sagte er.
»Wenn die Polizei das meint, wird’s schon so
sein. War möglich. Sieht ihm schon ähnlich. Aber
wie gesagt, ich bin nicht sicher. Es war zu dun-
kel.«
Priscilla Wales saß in ihrem Büro in San Francis-
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co, das sie während der Jahre in einem Stil ein-
gerichtet hatte, den sie nur halb im Scherz als
»Heilsarmee« bezeichnete, und erwog ihre Optio-
nen. Es war schon nach Mitternacht, doch das
spielte keine Rolle für sie. Tageszeiten waren ihr einerlei.
Das war nicht immer so gewesen. Früher war sie
jeden Abend nach Hause geeilt, um Abendessen
für ihren Sohn zu machen, ihm bei den Schular-
beiten zu helfen oder einfach nur in seiner Nähe
zu sein und sein Heranwachsen mitzuerleben.
Und als er ein eindrucksvoller junger Mann ge-
worden war, der aufs College ging und später
Jura studierte, rief er noch immer häufig abends
an, und sie plauderten stundenlang, als seien sie beste Freunde. Doch all das nahm vor zwei Monaten ein abruptes Ende, als ihr Sohn im Alter von
vierundzwanzig Jahren von einem Betrunkenen
totgefahren wurde.
Nun hatte sie nur noch ihre Arbeit. FOCUS – Ak-
ronym für »Freedom of Choice in the United Sta-
tes« – sorgte dafür, dass sie in Bewegung blieb.
Priscilla glaubte, dass die Organisation nach zwei Jahrzehnten engagierter Arbeit nun endlich vor
dem Durchbruch stand. Ein Mann, den man des
Anschlags auf Hill House verdächtigte, war ver-
haftet worden, und wenn Anklage gegen ihn er-
hoben wurde, würden sich die Medien auf diesen
Prozess stürzen.
Es zeichnete sich ab, dass die beiden diesjährigen 106
Präsidentschaftskandidaten in puncto Abtreibung
absolut entgegengesetzte Standpunkte vertraten.
Da der eine für eine politische Richtung stand, die Frauen wieder zurück an den Herd wünschte, war
es umso wichtiger, dass der andere ins Weiße
Haus einzog.
Der Wahlkampf konnte kaum besser beginnen als
mit einer Verurteilung in diesem Fall, fand Priscilla. Das würde verdeutlichen, dass Frauen in die-
sem Land nicht mehr unterdrückt werden sollten
und dass Gewalt gegenüber Frauen nicht gedul-
det wurde.
Die einundfünfzigjährige Bürgerrechtsanwältin
lehnte sich in ihrem Sessel zurück und überlegte, wie sie und ihre Organisation eine solche Ent-wicklung fördern könnten. Priscilla war gerade
vierzehn geworden, als ein Junge, der ein paar
Häuser weiter wohnte, sie in der Garage seiner
Eltern in die Ecke drängte und vergewaltigte. Sie schämte sich zu sehr, um ihren Eltern zu sagen,
dass sie schwanger war, ließ sich von der Freun-
din einer Freundin eine Adresse geben und mach-
te sich auf zu einem heruntergekommenen Ge-
bäude in einer verwahrlosten Gegend der Stadt.
Sie hätte den Abbruch kaum überlebt.
Als sie im Krankenhaus lag und Arzte darum
kämpften, die Blutung zu stoppen und die Infek-
tion in den Griff zu bekommen, traf Priscilla
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