Mein Wille geschehe
nachvollziehen, wie die Polizei
zu dem Schluss kommen konnte, dass sie voll-
ständig war. Als sie noch für die Anklagevertre-
tung arbeitete, hatte sie gelernt, davon auszuge-
hen, dass es keine Zufälle gab. Doch nun, da sie
auf Seiten der Verteidigung stand, wusste sie,
dass fast alles Zufall sein konnte. Sie hatte die Absicht, penibel jede Dokumentation und Analyse
233
und jeden Zeugen der Anklage zu hinterfragen
und den Geschworenen vorzuführen, dass selbst
etwas, das auf den ersten Blick wie eine uner-
schütterliche Tatsache aussah, eine andere Deu-
tung zuließ. Die Umstände eines Falls waren im-
mer offen für unterschiedliche Auslegungen, und
indem man eine überzeugende Interpretation
entwickelte, konnte man Zweifel an der Anklage
erzeugen.
Um das erreichen zu können, bedurfte Dana der
Hilfe von Craigjessup. Er war der Beste auf sei-
nem Gebiet, und wenn es irgendetwas auszugra-
ben gab, würde er es finden. Doch nun war er
schon seit Monaten an der Arbeit, und bislang
hatte er noch nichts entdeckt, was sie der Ankla-
ge als alternative Auslegung vor die Nase halten
konnte. Und die Zeit wurde allmählich knapp.
Dennoch war Dana der Überzeugung, dass ihr
Material irgendwo zu finden war. »Es muss ein-
fach so sein«, sagte sie zu Jessup. »Weil Corey
Latham unschuldig ist. Das heißt, irgendwo da
draußen läuft ein Massenmörder frei herum und
glaubt, er sei davongekommen. Aber wir beide
wissen, dass es das perfekte Verbrechen nicht
gibt. Er muss irgendeine Spur hinterlassen ha-
ben. Sie müssen sie für mich finden.«
Jessup nickte müde. Er hatte schon öfter mit Da-
na zusammengearbeitet und hatte noch nie er-
lebt, dass sie sich für einen Mandanten so leidenschaftlich einsetzte. Aber schließlich taten Louise 234
und er es ihr beinahe gleich, sagte er sich. »Gut, ich seh mich noch mal um«, versprach er. »Wenn
irgendwo was zu finden ist, werde ich es aufspü-
ren. Wenn nicht, na ja, zum Teufel, dann werd
ich’s eben für Sie hintricksen.«
Dana war sich dessen nicht bewusst, doch auf
diese Worte hatte sie gewartet wie auf ein Ret-
tungsseil.
»Wie läuft’s?«, fragte Paul Cotter, der in der Tür stand. Dana fuhr aus ihren Gedanken hoch.
»Nun, es sieht keineswegs so schlecht aus, wie
ich erwartet hatte«, gab Dana munter zur Ant-
wort. Sie hatte nicht die Absicht, den Geschäfts-
führer in ihre Sorgen einzuweihen. »Tatsächlich?«
»Ja«, sagte sie. »Wir werden in recht guter Form
antreten, denke ich. Was ich bislang von der Be-
weislage gesehen habe, ist eine dürftige An-
sammlung von Zufällen, die ich haarklein zu zer-
legen beabsichtige.«
»Tatsächlich?«, wiederholte Cotter. »Mir ist aber zu Ohren gekommen, dass Brian Ayres und sein
Team mit ihrem Material ganz zufrieden zu sein
scheinen.«
Dana zuckte die Achseln. »Na ja, das glaubt er
nur, weil ihm eine wichtige Information fehlt, ü-
ber die ich aber verfüge«, erwiderte sie.
»Und die wäre?«, fragte Cotter interessiert. Dana gestattete sich ein kleines Lächeln. »Corey
Latham ist unschuldig«, sagte sie.
Der Geschäftsführer nickte gedankenverloren und
235
blickte auf die Tafel, wo er offenbar versuchte,
Danas Hieroglyphen zu entziffern. »Ich muss Sie
gewiss nicht daran erinnern, dass Unschuld allein keinen Freispruch bewirken kann«, sagte er. Da-na lehnte sich gelassen in ihrem Sessel zurück.
»Nein«, erwiderte sie ruhig, »aber sie ist ein guter Ausgangspunkt.«
Cotter blickte noch immer auf die Tafel. »Ich ha-
be Charles Ramsey gebeten, im Prozess als zwei-
ter Stellvertreter dabei zu sein«, sagte er.
»Ah ja?«, erwiderte Dana. Von Cotter selbst ab-
gesehen, war der sechsundsechzigjährige Charles
Ramsey wohl der konservativste Sozius der Kanz-
lei. Er hatte einen hervorragenden Verstand und
eine scharfe Zunge. Sie konnte sich nicht erin-
nern, dass er jemals als zweiter Stellvertreter
fungiert hatte.
»Er wird sich nicht einmischen«, versicherte Cot-
ter ihr hastig. »Er stellt nur das Bindeglied zur Geschäftsleitung dar. Er kann uns auf dem Laufenden halten über den Prozess, dann müssen wir
Ihre Zeit nicht in Anspruch nehmen.« Dana ließ
sich nicht täuschen. Ramsey war erzkonservativ,
und er würde sich niemals auf eine Frau verlas-
sen, trotz der nachweislichen Erfolge, die Frauen im Gerichtssaal errungen hatten, und trotz der
Tatsache, dass er seit Jahren mit ihr zusammen-
arbeitete. Ramsey sollte als Wachhund
Weitere Kostenlose Bücher