Mein Wille geschehe
Uhr
abends hell war.
Sie hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, bis
spät abends zu arbeiten. Es fiel ihr leichter, an ihrer Strategie zu basteln, wenn die Telefone auf den Antwortdienst umgeschaltet waren, sich niemand mehr in den Büros aufhielt und sie nicht
gestört wurde. In ein paar Wochen würde der
Prozess stattfinden, und seit Ende Juni arbeitete Dana sechzehn Stunden am Tag.
Meist kam sie erst nach Hause, wenn es schon
dunkel war, und es war ihr nur mit Mühe gelun-
gen, Mollys zehnten Geburtstag nicht zu versäu-
men. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern,
wann sie zum letzten Mal für ihre Familie gekocht oder mit ihrem Mann geschlafen hatte. Zum
Glück brachte er Verständnis dafür auf. Oder ak-
zeptierte diese Umstände wenigstens. Er hatte
vielleicht von Anfang an deutlicher vorausgese-
hen, was der Fall Latham seiner Familie abfordern würde. Die kurzen Treffen, die ihnen möglich waren, gestaltete er sehr liebevoll, indem sie abends gemeinsam durch die Stadt bummelten oder ein
Picknick im Park machten. Obwohl er immer alles
bestens plante, wurden sie allerdings auch dabei
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oft von Journalisten aufgestöbert.
»Verraten Sie uns Ihre Strategie«, riefen sie Da-
na von der anderen Straßenseite, von einem
Tisch neben ihnen im Restaurant oder einem
Picknickplatz am Green Lake aus zu. »Das behal-
te ich mir für die Geschworenen vor«, antwortete
Dana stets mit einem unterkühlten Lächeln, das
den Reportern unmissverständlich bedeutete,
dass sie keine weiteren Fragen dulden würde. Sie
fand deren Hartnäckigkeit widerwärtig, und es
ärgerte sie, dass sie sich von ihnen in die Enge
getrieben fühlte wie ein verfolgtes Tier. Der
Wechsel von der Seite der Anklage zur Seite der
Verteidigung war für Dana nicht leicht gewesen,
auch wenn es in dem Geplänkel mit Brian Ayres
den Anschein gehabt hatte. Sie hatte diese Ver-
änderung allerdings immer vorgehabt, denn sie
war nicht umsonst die Tochter ihres Vaters. Doch
sie hatte sich jahrelang innerlich damit auseinander setzen müssen, und erst jetzt hatte sie die
notwendige Klarheit für sich gefunden.
»Wie kannst du nur solchen Abschaum verteidi-
gen?«, hatte sie ihren Vater gefragt, als sie noch studierte und er in einem abscheulichen Verge-waltigungsfall als Verteidiger antrat. »Es gilt hier gleiches Recht für jeden«, hatte Jefferson Reid
geantwortet. »Indem ich den Mann verteidige,
ermögliche ich uns allen in diesem Land einen
Prozess, der jeden von uns schützt.«
»Wie soll das Opfer geschützt sein, wenn der
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Vergewaltiger freigesprochen wird?«, erwiderte
Dana.
»Ich werd’s dir sagen«, antwortete ihr Vater. »Es mag dir unwahrscheinlich vorkommen, doch was
wäre, wenn ›dieser Abschaum‹ wie du ihn jetzt
nennst, die Tat nicht begangen hat? Wenn die
Beweislage dürftig oder womöglich gefälscht war,
weil alle einen Schuldigen wollten? Nun, sagen
wir doch mal, du seist die Tochter dieses Mannes, und er bekäme fünfzehn Jahre Haft für ein
Verbrechen, das er nicht begangen hat. Wie wäre
dir da zu Mute?«
»Ich wäre wahnsinnig wütend«, gab Dana zu.
»Und, ist er unschuldig?«
Reid zuckte die Achseln, »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Das Urteil müssen wir den Geschworenen überlassen.« Nach ihren vierzehn Jahren Be-
rufspraxis war Dana nun voll und ganz davon ü-
berzeugt, dass die Rechtsprechung richtig aufge-
baut war und dass der Staat dazu herausgefor-
dert werden musste, seine Anklage lückenlos be-
weisen zu können. Doch die Leichtfertigkeit, mit
der sich einige Anwälte über die Regeln hinweg-
setzten und die Wahrheit zu Gunsten ihres Man-
danten manipulierten, machte ihr noch immer zu
schaffen.
Sie bewunderte die Arbeitsweise ihres Vaters und
hatte stets den Eindruck gehabt, dass es eine
bestimmte Grenze gab, die er niemals über-
schreiten würde. Sie hatte diese Grenze für sich
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selbst zu ermitteln versucht, trotz des Bestre-
bens, einen Prozess unter allen Umständen zu
gewinnen, doch sie hatte sie noch immer nicht
richtig gefunden. Bis jetzt. Denn jetzt hatte man Corey Latham angeklagt. Und Dana sah deutlicher denn je die Notwendigkeit, die Rechte eines
jeden Angeklagten zu schützen. Dass sie diesen
Angeklagten nicht nur pro forma, sondern mit
voller Überzeugung verteidigen würde, war ihr
selbst erst im Lauf der Zeit bewusst geworden.
Als sie den Fall angenommen hatte, war sie au-
tomatisch von seiner Unschuld
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