Meine beste Feindin
Medicine. Man belegte zunächst für drei Jahre die üblichen Kurse in Geistes- und Naturwissenschaften, um dann vier Jahre lang die zahnmedizinische Fakultät zu besuchen. Während wir mal dieses und mal jenes ausprobierten und Georgia sogar zweimal ihr Hauptfach wechselte, arbeitete Amy Lee auf ihr Ziel hin.
Wenn ich jetzt so darüber nachdachte, fand sie uns eigentlich immer ein bisschen nervtötend. Ich war lange davon ausgegangen, dass Georgia und ich mit unserem Chaos ein wenig Farbe in ihr ach so zielstrebiges Leben brachten und dass sie uns gerade dafür liebte. Ich wollte mir nur ungern eingestehen, dass diese Zeiten inzwischen vielleicht vorbei waren. Sosehr ich mir auch wünschte, dass sie sich für ihren Ausraster entschuldigte, ich wollte noch viel mehr wieder mit ihr befreundet sein.
Aber ich wusste einfach nicht, was ich tun sollte.
Es war nämlich eine Sache, bei ihrem Spielchen mitzumachen, nicht mit ihr zu reden, sich nicht bei ihr zu melden. Aber es war etwas ganz anderes, sie anzurufen und festzustellen, dass sie mich auflaufen ließ, indem nur die Mailbox dranging oder mich Beatrice, die Arzthelferin, abwimmelte. Helen hatte es mir nachdrücklich bewiesen: Wenn man heutzutage jemanden zwingen wollte, einer Auseinandersetzung nicht länger aus dem Weg zu gehen, dann musste man sich persönlich an einer Stelle postieren, die der andere nicht umgehen konnte (außer, er war dazu bereit, die Feuerleiter hochzuklettern). In jedem anderen Fall gab es genügend Technik, hinter der man sich verstecken konnte. Solange ich nicht zum Telefon griff, sprach auch ich nicht mit Amy Lee, genauso, wie sie nicht mit mir sprach. Sobald ich anrief, konnte sie entscheiden, ob sie den Anruf annahm oder nicht, und in letzterem Fall würde sie mich bewusst ignorieren, und dann würde ich keine vagen Hoffnungen mehr hegen können.
Irgendwann würde ich mit so einer Abfuhr vielleicht gefühlsmäßig umgehen können, aber an diesem Abend war das nicht der Fall.
Noch nicht.
An diesem Abend vermisste ich sie einfach nur.
Eigentlich war es ja ganz praktisch, dass Weihnachten vor der Tür stand, dachte ich ein paar Tage später. Ich konnte bei meiner allabendlichen Shoppingtour zwar ebenso Trübsal blasen wie bei der Arbeit. Aber weil ich die Weihnachtsgeschenke irgendwie auftreiben musste , kam ich wenigstens ein bisschen unter Menschen. Für meine Eltern würde ich wie üblich etwas auf den letzten Drücker besorgen, aber ich schwitzte Blut und Wasser, weil ich nun wirklich nicht wusste, was meiner Schwester und ihrem Mann eine Freude machen würde. Die Geschenke für die Kinder waren am einfachsten - und es machte auch Spaß, in der Vorweihnachtszeit durch Spielzeugläden zu streifen. Das blanke Entsetzen auf den Gesichtern der Eltern war irgendwie amüsant, wenn man selbst nicht die Verantwortung für die Bescherung am Weihnachtsmorgen trug. Und abgesehen davon gelangte ich dort an den Tiefpunkt des Selbstmitleids, umgeben von kreischenden Kindern und Salutisten der Heilsarmee, deren Glockengeläut mir in den Ohren schrillte.
Dieselbe Logik brachte mich auch dazu, am Donnerstagabend auf die letzte Party vor Weihnachten zu gehen.
Zunächst versuchte ich allerdings, Verstärkung aufzutreiben.
»Ich bin froh und glücklich, dir mitteilen zu können, dass ich nun wirklich nicht zur Verfügung stehe«, erklärte mir Georgia am Donnerstagmorgen mit beunruhigend vergnügter Stimme. »Da ich zurzeit am schönen Seattle-Tacoma-Flughafen weile und das lokale Ambiente genieße. Amüsier dich gut.«
»Sitzt er neben dir?«, flüsterte ich aufgeregt.
»Ich bringe dir die neuesten Zahlen dann vorbei«, flötete sie in den Hörer. »Ich rufe dich zurück, wenn wir in Boston sind, wann auch immer das sein mag - es scheint einen Sturm zu geben.«
»Bald ist Weihnachten«, sagte ich. »Da darf die Sturmwarnung natürlich nicht fehlen.«
»Wir reden später«, versprach sie und legte auf.
Angesichts der bevorstehenden freien Weihnachtszeit verbrachte ich den Rest des Tages damit, meinen Schreibtisch aufzuräumen. Das war einer der Vorteile, wenn man für Minerva arbeitete. Sie und Dorcas ließen zu Weihnachten jedes Jahr das verschneite Boston hinter sich. Mal ging es auf die Bahamas, ein andermal war es St. Barts. Und dieses Jahr würden sie Cancun unsicher machen. Normalerweise waren sie bis nach Neujahr weg. Ich musste sie (und Minervas zahlreiche Reisekoffer - ja, genau, diese großen Schrankkoffer) am folgenden
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