Meine Brüder, die Liebe und ich - Higgins, K: Meine Brüder, die Liebe und ich
Wartezimmer ist leer, obwohl ein paar Donut-Papierhüllen verraten, dass gerade jemand hier war. Im Fernseher oben in der Ecke läuft CNN, aber ich sehe nicht hin. Die gebrochene Stimme meines Vaters hallt noch in meinem Kopf. Er hat nicht geglaubt, dass es passieren würde. Er hat einfach die Zeichen nicht erkannt.
Früher, als ich es erwartet habe, taucht Ryan auf. Er trägt grüne OP-Klamotten und darüber einen weißen Arztkittel, und falls er gerade mit menschlichem Elend zu tun hatte, merkt man es ihm nicht an. Er ist immer noch so makellos attraktiv wie beim ersten Mal, als ich ihn sah. Mr. New York Times . „Chastity! Was für eine nette Überraschung“, sagt er und gibt mir einen Kuss. „Wie geht es dir? Bist du nur hier, um mich zu besuchen?“
„Ryan, ich habe schlechte Nachrichten.“ Es schnürt mir schon wieder die Kehle zu. „Meine Mutter wird heiraten.“ Meine Stimme bricht.
„Etwa Harry?“, fragt Ryan ein wenig begriffsstutzig.
„Natürlich Harry“, gebe ich etwas unwirsch zurück.
„Aber das ist doch schön“, sagt er, scheint dann jedoch meinen entsetzten Gesichtsausdruck wahrzunehmen. „Oder auch nicht.“
„Mein Vater ist am Boden zerstört“, erkläre ich bitter.
„Ja, sicher, sicher“, meint er beruhigend. „Aber trotzdem …“ Doch er sagt nichts mehr und sieht auf die Uhr.
„Trotzdem was , Ryan?“
Er zuckt mit den Schultern. „Na ja, man muss auch das Gute sehen. Ich kann mir vorstellen, dass du traurig bist, weil deine Mutter ein neues Leben anfängt, aber deine Eltern sind immerhin geschieden. Und deine Mutter heiratet jemanden, der sie sehr verehrt und der finanziell abgesichert ist. Er ist eine gute Partie.“
Eine gute Partie. Wo sind wir, im England des Mittelalters? Mir steigen schon wieder Tränen in die Augen.
„Sei nicht traurig, Liebling“, sagt er, während sein Blick wieder zur Uhr wandert.
„Musst du gehen?“
„Ja, ich habe Visite“, gesteht er.
„Also gut“, sage ich steif. „Bis später.“
„Was meinst du? Können wir trotzdem am Wochenende nach New York City fahren?“, fragt Ryan nach.
Wenn ich noch eine Sekunde länger bleibe, drehe ich durch. „Ich muss los“, sage ich grob. „Bis dann.“
„Chastity!“, ruft er noch, aber ich marschiere bereits an der zickigen Oberschwester vorbei zum Aufzug und drücke unnötig heftig auf den Knopf. Mit knirschenden Zähnen warte ich darauf, dass die Kabine unten ankommt. Dann stürze ich hinaus, mitten durch eine Familie und hinaus in die schwüle Sommernacht. Ich renne Richtung Innenstadt. Dorthin, wo ich als Erstes hinwollte. Meine Augen sind verquollen, meine Nase läuft. Wie attraktiv!
Bevor ich es richtig merke, stehe ich vor Trevors Wohnhaus. In der Nähe spielt jemand Gitarre. Ein Baby schreit. Ich blicke nach oben und sehe Licht im rechten obersten Stockwerk. Gut. Er ist zu Hause.
Gerade tritt jemand aus dem Gebäude, sodass ich nicht klingeln muss, sondern einfach die zuschwingende Tür aufhalte. Ich renne durch die Eingangshalle und die Treppen hinauf, nehme dabei zwei Stufen auf einmal und fliege um die Ecken wie ein Polizist im Noteinsatz. Als ich im vierten Stock ankomme, schlittere ich über den Boden bis vor Wohnung Nummer 4D.
Atemlos und keuchend klopfe ich laut an, und als Trevor öffnet und mich überrascht ansieht, zögere ich keine Sekunde. Ich werfe mich in seine Arme.
31. KAPITEL
C hastity, was ist los?“ Trevor versucht, mir ins Gesicht zu sehen. Ich lasse es nicht zu, sondern klammere mich weiter an ihm fest, spüre seinen warmen Hals an meiner Wange, die tröstende Kraft seiner Arme, die mich umfassen, den Duft von Seife und Shampoo. Oh Gott, ich kenne diesen Duft, dieses Gefühl. Ich erinnere mich an alles.
„Meine Mom …“ Ich erkenne meine Stimme selbst nicht wieder.
„Ist sie verletzt?“ Er klingt sanft und ruhig, selbst bei einer solchen Frage.
„Nein!“, schluchze ich. „Es geht ihr gut.“
„Komm rein, Liebes.“ Trevor löst sich aus meiner Umklammerung, nimmt meine Hand und führt mich in seine Wohnung. Ich bin noch nie hier gewesen. Sein Wohnzimmer ist in einem warmen Gelb gestrichen, es gibt einen Kamin und viele Pflanzen. Mehr kann ich mit meinen nassen Augen nicht erkennen. Er schiebt mich sanft aufs Sofa, verlässt kurz das Zimmer und kehrt mit einer Schachtel Papiertaschentücher zurück.
„Was ist denn passiert, Chastity?“, fragt er noch einmal, während ich mir laut die Nase putze. Ich brauche mehrere Tücher, um meine
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