Meine Brüder, die Liebe und ich - Higgins, K: Meine Brüder, die Liebe und ich
gut, mich hat man auch schon für eine Lesbe gehalten, also, was weiß ich schon?
„Tja, ich würde gern noch mehr hören, aber ich muss zu einem Interview. Bis fünf Uhr müsste ich zurück sein, okay?“
„Also gut“, gibt sie schnippisch zurück. Offenbar bedarf es mehr als geheucheltes Interesse an ihren Hochzeitsvorbereitungen, damit wir Freundinnen werden.
Es ist ein schöner, warmer Tag. Die hellgrünen Blätter sehen saftig und frisch aus, und ich bleibe einen Moment stehen, um die Aussicht auf unser Städtchen vor den fernen Bergen zu genießen. Fast alle Gebäude in der Innenstadt wurdenum die Jahrhundertwende erbaut und zeugen von einer Eleganz und Liebe zum Detail, die man sich heute nicht mehr leisten möchte. Die meisten der Ziegel- oder Kalksteinhäuser sind nur vier oder fünf Stockwerke hoch, mit verspielten Zierleisten und vergoldeten Fresken. Schmale Gassen zweigen von der Hauptstraße ab wie Nebenarme eines Flusses, und auf einmal ist mir ganz heimelig zumute. Ich liebe meine Heimatstadt. Ich liebe meinen Beruf. Ich bin so froh, wieder hier zu sein. Dies ist eine neue Phase in meinem Leben, und ich bin überzeugt, dass es eine gute Phase wird. Echtes Erwachsensein. Ein Haus und einen Hund habe ich schon, und bald kommt hoffentlich der Freund/Verlobte/Ehemann/Vater meiner gesunden, hübschen Kinder dazu.
Ich gehe die drei Blocks zum neuen Spielzeugladen, der praktischerweise gleich neben dem Coffeeshop Hudson Roasters liegt. Dort bestelle ich zwei Milchkaffee und, da mein Magen knurrt, auch eine Quarkschnecke, nehme alles in einer Papiertüte mit und gehe nach nebenan zu Marmelade Sky .
„Hallo“, rufe ich, während ich die Tür aufschiebe. Der Laden ist niedlich eingerichtet. Alle Arten von Spielzeug – Puzzles, Legobausteine, Plüschtiere, Spiele – drängen sich kunterbunt auf den Regalen. „Kim? Hier ist Chastity O’Neill von der Gazette . “
Eine rundliche junge Frau in einem schlichten, langen braunen Trägerkleid betritt durch eine Hintertür den Geschäftsraum. „Hallo, ich bin Kim Robinson. Schön, dass Sie gekommen sind!“
Meine Vorgängerin hatte das Interview mit Kim schon vereinbart, und ich wollte es gern übernehmen. Ihre Geschäftseröffnung gehört genau zu der Sorte Nachrichten, auf die ich mich gefreut habe, seit ich der Großstadthektik von Newark entronnen bin.
„Ich habe Ihnen einen Milchkaffee mitgebracht“, sage ich und halte einen Becher hoch.
„Oh, das ist aber nett.“ Sie lächelt. „Aber ich trinke keinen Kaffee, tut mir leid.“
Vermutlich ist sie der Grüne-Tee-und-Müsli-Typ, denke ich im Hinblick auf ihr Outfit. Kim schlägt vor, dass wir uns in die Leseecke im hinteren Teil des Ladens setzen, wo wir von bunten Bilderbüchern, Winnie-Puh-Plüschbären und einem Schiffsmobile mit bunten Segeln umgeben sind. Ich packe meinen Notizblock aus. „Also, Kim, wie kamen Sie auf den Namen ‚Marmelade Sky‘?“, will ich wissen.
„Na, wegen dem Beatles-Song.“ Sie lächelt fröhlich.
Ich stutze. „Dem LSD-Song?“
„Nein“, erwidert sie, „das ist aus ‚Lucy in the Sky with Diamonds‘.“
Ich stutze erneut. „Aber … äh … das ist der LSD-Song!“
Sie überlegt eine Weile und macht ein bestürztes Gesicht. „Du meine Güte, das stimmt! Natürlich ist das der LSD-Song.“
Ich muss lachen. „Keine Sorge, ich werde das im Artikel nicht erwähnen. Nächste Frage: Wie sind Sie auf die Idee gekommen, einen Spielzeugladen aufzumachen?“
„Ich glaube, das war, als meine Schwester ihr erstes Kind bekam“, beginnt Kim. Sie erzählt, wie sehr sie Kinder und vor allem deren Fantasie liebt. Ich stimme ihr zu und erwähne meine acht Nichten und Neffen. Kim strahlt, und ihre runden Wangen röten sich vor Freude. „Wissen Sie, Chastity“, sagt sie eifrig, „wenn Sie einem Kind das richtige Spielzeug geben, wird es viele, viele Stunden Spaß haben, seine Kreativität und Fantasie werden gefördert … Fast so, als gäben Sie ihm einen Schlüssel zu einem … zu einer eigenen …“
„Zu einer eigenen Welt?“, schlage ich vor und schreibe weiter. Kim antwortet nicht. Ich sehe sie an.
Kim erhebt sich ein wenig umständlich und blickt auf ihren runden Bauch.
„Ich glaube, mir ist gerade die Fruchtblase geplatzt.“Ich fühle mich plötzlich, als würde ich im Expressfahrstuhl des Empire State Buildings nach unten sausen. „Sie sind … Sie sind schwanger?“, stammele ich. Nicht kräftig gebaut. Nicht rundlich oder untersetzt.
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