Meine Brüder, die Liebe und ich - Higgins, K: Meine Brüder, die Liebe und ich
ausgeschnittenen weißen Bluse und einem blau-weiß gemusterten Rock – zu dessen Kauf Elaina mich damals gedrängt hatte – absolut passend und feminin gekleidet. Ich trage flache Schuhe, aber nicht meine geliebten roten Basketballtreter, sondern hübsche Ballerinas. Ryan ist größer als ich, deshalb würden hohe Absätze meine Illusion zerstören, eine zarte Maid zu sein. Als ich ankam, wartete er bereits und sah von oben bis unten ganz so aus wie das New-York-Times - Model, für das ich ihn zunächst gehalten hatte. Er gab mir einen Kuss auf die Wange und schob mir den Stuhl hin. Ich bin sicher, wir haben eine gemeinsame Zukunft.
Konzentrier dich, Chastity. Du musst ihn erst interviewen, bevor ihr die Namen eurer Kinder besprecht.
„Und wo haben Sie studiert?“, frage ich also weiter.
„Grundstudium in Harvard, Hauptstudium in Yale.“
„Dann haben Sie es also nicht auf die guten Unis geschafft“, sage ich todernst.
„Das sind gute Unis“, widerspricht er und runzelt die Stirn. „Sehr gute Unis sogar.“
„Das war doch nur … Genau. Die besten.“ Na gut, er ist mehr der ernste Typ. Auch eine schöne Eigenschaft.
„Tut mir leid, Sie hatten das als Witz gemeint. Entschuldigung, mein Fehler. Ich muss meinen Sinn für Humor im Krankenhaus vergessen haben. Tut mir leid.“
„Ach, das macht doch nichts.“ Ich lächle. „Sie sind also Chirurg, ja?“
„Unfallchirurg“, berichtigt er mit bescheidenem Lächeln. Ich vermute, dass ich jetzt noch tiefer beeindruckt sein soll, aber hey: Dafür hat Harvard schon gereicht.
„Wie kamen Sie auf die Idee, Selbstverteidigungskurse anzubieten, Ryan?“ Ich nehme einen Schluck des exzellenten Weines, den er ausgesucht hat.
„Tja, sehen Sie, Chastity“, beginnt er und macht wieder ein ernstes Gesicht, „mir lag die Sicherheit von Frauen schon immer sehr am Herzen.“
„Hm.“
„Die meisten Frauen wissen einfach nicht, wie sie sich wehren können“, fährt er fort.
„Wie geht es übrigens Ihrem …?“, frage ich und sehe ihn an.
Er lächelt. „Gut.“
„Da bin ich ja beruhigt.“ Ich sehe wieder auf meinen Notizblock. Ich wollte ihn nur daran erinnern, mit wem er es hier zu tun hat.
Er erzählt weiter von seinem Wunsch, etwas weiterzugeben, der Gemeinschaft zu dienen und so weiter. Das Übliche. Mich interessiert viel mehr, wie das Kerzenlicht auf seinen Wimpern schimmert. Er spricht sehr ernst, runzelt dabei immer wieder die Stirn und bildet lange, gut ausformulierte Sätze mit beeindruckend reichem Wortschatz und exzellenter Grammatik.
„Haben Sie denn Schwestern?“, will ich wissen. Vielleicht steckt noch mehr hinter seinem Wunsch, Frauen zu helfen. Nicht, dass es schlecht ist oder so etwas, aber es wirkt ein wenig … na ja, herablassend. Gut, er ist Chirurg, ein edler Beruf … dazu das Studium in Harvard und Yale – da entsteht so eine Haltung wohl von selbst.
„Ja, eine. Sie heißt Wendy.“
„Wendy?“, frage ich nach und muss grinsen. „Ihre Schwester heißt Wendy Darling?“
„Ja.“ Er sieht mich verständnislos an. „Warum? Was ist daran so komisch? Oder kennen Sie sie?“
„Jeder kennt Wendy Darling.“ Ryan weiß offenbar immer noch nicht, was ich meine. „Na, aus Peter Pan“, erkläre ich, „Wendy Moira Angela Darling. You can fly! You can fly! You can fly! “, füge ich noch den Refrain des berühmten Disney-Lieds hinzu.
„Das wusste ich gar nicht“, sagt Ryan, scheint aber amüsiert. „Sie haben eine schöne Stimme, Chastity.“
„Oh, das hat mir noch niemand gesagt“, entgegne ich verlegen.
„Jedenfalls … Haben Sie noch mehr Fragen an mich?“
„Nein, ich denke, ich habe genug aufgeschrieben.“
„Dann ist das Interview vorbei?“ Er wirkt ein wenig enttäuscht.
„Es sei denn, Sie haben noch etwas, das Sie mir erzählen wollen“, biete ich an.
Er lehnt sich zurück und mustert mich. Oh Gott, diese Augen! „Nein. Aber ich hoffe, Sie müssen nicht gleich wieder weg.“
Ich lächle zurückhaltend, obwohl ich einen Jubelschrei ausstoßen möchte. „Nein, muss ich nicht. Und wir haben das Essen ja auch noch nicht bestellt.“
Wir geben also unsere Bestellung auf und tauschen die üblichen Informationen aus – Geburtsort, Familie, beruflicher Werdegang und solche Sachen. Sein Leben könnte tatsächlich als Bewerbungsschreiben für die Stelle Ehemann durchgehen: Hat als Kind schon Sport getrieben. Stabile Familienverhältnisse. Ehrenamtliches Engagement in der Kirche. Hervorragende
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