Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)
Polizei, foltere Menschen, aber ihn sahen wir nie. Sie zischte uns in der Dunkelheit andauernd zu, dass wir mit dem Flüstern aufhören sollten, und verwünschte uns mit kurzen, kaum verständlichen Worten, als fürchtete sie, wir könnten mit unserem Getuschel die Aufmerksamkeit der Piloten auf uns ziehen, die über die Stadt hinwegflogen.
Wenn wir abends in der Küche saßen, verfolgte Opa Simon auf seinen Landkarten das Vorrücken der Truppen an den Fronten, während die Tanten Modezeitschriften aus der Vorkriegszeit durchblätterten und Schnitte begutachteten. Die Schaben raschelten hinter der Kredenz, lugten misstrauisch hinter dem Holzstapel neben dem Herd hervor und warteten darauf, dass die Dunkelheit hereinbrach, um dann auszuschwärmen. Eine besonders große Schabe, schwarz und glänzend, wagte es, über den beleuchteten Teil des Fußbodenszu rennen. Meine Cousine Emilia gab mir ein Zeichen und flüsterte: »Die Küchenschaben-Oma! Das ist sie.«
»Malta und Gibraltar«, sagte Opa Simon und hob seinen Blick von den Karten. »Malta und Gibraltar sind die Schlüssel zum Mittelmeerraum.«
»Der Rock muss plissiert sein«, sagten die Tanten. »Seht doch mal die Falten.«
Die Erwachsenen waren in ihren Zeitvertreib vertieft. Meine Cousine Emilia nahm eine leere Streichholzschachtel, kniete sich neben dem Schrank hin und schnalzte leise und lockend mit der Zunge. Die große Küchenschabe ließ sich täuschen und kam hervor. Im nächsten Moment war sie schon gefangen und scharrte verzweifelt mit den Beinchen, um sich aus ihrem engen Kerker zu befreien.
»So«, sagte meine Cousine Emilia, »jetzt wirst du keine Brotrinde mehr im Keller knabbern können.«
Wir versteckten die Schachtel mit der Küchenschabe hinter dem Holzstapel. Aus der Schachtel hörte man panisches Scharren.
Sehr früh am nächsten Morgen begannen die Sirenen zu heulen. Sie heulten wie riesige, schrecklich hungrige Tiere, eine nahm den Schrei der anderen auf. Sie hatten sich noch nicht beruhigt, als wir schon die Treppe in den Schutzraum hinunterstiegen.
»Sie ist nicht da«, sagte meine Cousine Emilia und blickte in den Winkel hinüber, in den sich die Küchenschaben-Oma immer zurückzog. Mit angehaltenem Atem warteten wir ab, bis auch die letzten Nachbarn die Treppe heruntergekommen waren. Die Küchenschaben-Oma war nicht dabei.
Vor dem Schutzraum saßen die Männer, spielten Beobachterund schauten zum Himmel. Die Frauen verwünschten sie und schrien, sie sollten hereinkommen. Gerade als einer von ihnen herunterkam, um zu melden, dass die Flugzeuge genau über uns seien, hörte man auf der Treppe kleine, hastige Schritte. Wir blickten uns an. Es war die Küchenschaben-Oma.
Völlig aufgelöst, zitternd und außer Atem erzählte sie, dass sie eingesperrt worden war: In der Annahme, sie wäre bereits gegangen, hatten die anderen Hausbewohner das Hoftor verschlossen, als sie zum Schutzraum aufgebrochen waren. Sie hatte einige morsche Latten entfernt und sich durch die Öffnung gezwängt. »Ich bin gerade noch davongekommen«, wiederholte sie immer wieder mit erstickter Stimme. Die Frauen gaben ihr Zucker und Wasser, damit sie sich beruhigte.
Als wir nach Hause kamen, schauten wir in der Küche nach. Natürlich war die Schachtel leer. Sie stand ein kleines bisschen offen.
An diesem Abend in der Küche versuchten wir, die große Schabe zu ködern. Die aber hatte nun schon Erfahrung, ließ sich nicht mehr übertölpeln und entfernte sich nicht weit von dem Loch im Boden. Als meine Cousine Emilia das Gefühl hatte, dass die Küchenschabe doch weit genug von allen Ritzen entfernt war, nahm sie die Schachtel und stülpte sie über das Tier. Aber die Küchenschabe war schneller: Blitzschnell entwand sie sich, und auf dem Fußboden unter der Schachtel blieb nur eines ihrer Beinchen zurück. Das Beinchen krümmte und streckte sich noch einige Male. Dann regte es sich nicht mehr. Meine Cousine Emilia legte es in die Schachtel. Danach saßen wir in der Ecke und betrachteten die Zeichnungen mit den Heißluftballons und Unterseebootenaus den Romanen von Jules Verne. Von draußen hörte man, wie die Absätze beschlagener Stiefel auf das Straßenpflaster knallten: Militärpatrouillen drehten ihre Runden durch die Stadt.
Als wir am nächsten Tag im Schutzraum eintrafen, war die Küchenschaben-Oma nicht da. Sie erschien weder als alle schon heruntergestiegen waren noch als die Männer kamen, um zu berichten, dass die Flugzeuge genau über uns waren.
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