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Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)

Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)

Titel: Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vlada Urosevic
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ausgeschlafen und frisch aus. »Schau mal, der Mond«, rief sie begeistert. In ihren Augen funkelte es wie Katzengold, ihre Finger waren elektrisch aufgeladen. Verwirrt bemerkte ich, wie sich die Konturen ihrer Brüste abzeichneten. Sie war auf einmal älter geworden und erinnerte mich an die Frauen auf den schwarz umrandeten Postkarten, die ich in einer von Onkel Filips Schubladen entdeckt hatte. Ich wollte sie noch einmal küssen, doch sie legte den Finger an die Lippen, nahm mich an der Hand und ging zur Tür. Im Waggon schliefen alle – da waren hintenübergekippte Köpfe, offene Münder, seltsam verrenkte Arme. Es war wie ein Bild von einem Schlachtfeld: Alle waren tot, bestäubt mit dem Silberpuderdes Mondlichts. Wir bahnten uns einen Weg durch den Waggon und öffneten die Tür zum nächsten. Dort war es dunkel, nur ein paar große Schatten bewegten sich, der Boden knarrte. »Pferde«, sagte meine Cousine Emilia, und tatsächlich, unter meinen Händen spürte ich die Konturen eines Pferderückens, über den unter meiner Berührung ein nervöses Zittern lief. Im Waggon standen große Pferde mit langen Mähnen. Sie waren ruhig, als seien sie sich der sie umgebenden Stille bewusst, nur eines fraß in einem Winkel geräuschvoll Heu. Während sie sanft ihre Körper berührte, führte mich meine Cousine Emilia weiter. Berauscht von dem schweren, süßlichen Geruch ihres Schweißes bahnten wir uns unseren Weg zwischen ihren nervös zuckenden Körpern hindurch. Große bleiche Käfer schienen über ihre Rücken zu laufen: Das Mondlicht fiel durch die Bretter des Daches auf die sich träge regenden Körper. Meine Cousine Emilia streckte die Hand aus: Auf ihrer Handfläche beruhigte sich der Käfer. Die Pferde betrachteten uns mit ihren großen, sanften Porzellanaugen und beschnupperten unsere Kleider und Gesichter, als wir an ihnen vorübergingen.
    Wir liefen durch diesen langen Waggon voller massiger, friedlicher Körper und gelangten in den nächsten. Hier gab es Abteile – eine Seltenheit in den Zügen auf dieser Strecke, fast schon ein kleiner, ungewöhnlicher Luxus. Es war ein alter Waggon. Die Messingteile waren dunkel angelaufen, die Schrift auf den kleinen Emailtafeln war abgegriffen und unleserlich geworden. Auch hier schliefen alle. Aber diese Leute hier unterschieden sich von denen, an die wir als Mitreisende gewöhnt waren: Das war nicht das graue Gesindel der Personenzüge, diese Meute schmutziger kleiner Taschendiebeund Planetenverkäufer. Ausgestreckt auf dem Samt der ersten Abteile, der einst die Farbe vergorener Kirschen gehabt hatte und unter dessen Aschgrau sich jetzt nur noch hie und da ein Abglanz von Rot zeigte, schlummerten kurios gekleidete Damen in langen Kleidern, kleine rosafarbene und blaue Schirme neben sich. Ihre breitkrempigen Hüte mit Spitzenborten und Federn waren ihnen über die Gesichter gerutscht, die Ziernadeln, die darin steckten, wippten im Rhythmus ihrer Bewegungen wie die Fühler von Krebsen. Die Abteile ähnelten kleinen Unterwasserhöhlen, in denen die hellgrünen Algen des Mondlichts unbeweglich herabhingen und auf den Gesichtern der Schlafenden glänzende Spuren hinterließen, als wären Schnecken darübergekrochen. Auch ein paar Kinder in Matrosenanzügen und Lackschuhen waren darunter. In den anderen Abteilen schliefen feiste Händler mit silbernen Uhrketten auf der Brust und mit aufgeknöpften Westen, schwarze Halbzylinder neben sich.
    In den Winkeln der Abteile drängten sich schreckhafte Schatten, Messing blitzte auf und verschwand dann wieder in der Dunkelheit. Vom Mondlicht angeleuchtet traten die Gesichter der Schlafenden hervor, tauchte dieses bunte Durcheinander von seltsam durcheinandergewürfelten Menschen in sonderbarer Kleidung und grotesken Verrenkungen auf. Sie wirkten wie fremdartige Schmetterlinge aus Papier, die der Wind aus einer anderen Jahreszeit hierhergetragen hatte. Wir gingen von Abteil zu Abteil, und nur meine Cousine Emilia quietschte hin und wieder leise auf, wenn sie ein Kleid von einem ungewöhnlichen Schnitt entdeckt hatte. Die tiefen Falten der Kleider öffneten sich gemächlich wie Kiemen, die Spitzenblumen dehnten sich wie bleiche Quallen aus. DerAtemrhythmus war leicht und kaum spürbar: wie das Echo von großen Wellen, die sich irgendwo weit draußen auf dem Meer brechen. Wir kamen in einen weiteren Waggon, dann in noch einen. Überall lagen Frauen mit einem künstlichen Lächeln auf den Lippen, Männer mit geheuchelter Strenge in den

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