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Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)

Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)

Titel: Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vlada Urosevic
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den Wiederaufbau der Bahnlinie in unserer Gegend. Mit der Unbeholfenheit eines Menschen, der lange Zeit mit niemandem mehr gesprochen hat, der zum Zuhören aufgelegt gewesen wäre, wollte er alles auf einmal sagen und brachte dann die Dinge durcheinander, verstrickte sich in Widersprüche, korrigierte sich und versuchte vergeblich, irgendwelche unbedeutenden Details zu erklären. Nebulös und verworren erzählte er uns, dass es einst zwei Eisenbahnstrecken gegeben habe, berichtete von ihrer Unwirtschaftlichkeit, von den Versuchen, die eine davon stillzulegen, von seinem Kampf – er sei damals Mitglied des Stadtrats gewesen –, dass die eine davon, die kürzere und bessere, weiter genutzt würde, und von den finsteren Machenschaften, mit deren Hilfe es den Anhängern des anderen Projekts gelungen sei, ihre Idee durchzusetzen. In der Konditorei roch es nach Zimt und nach unbekannten, orientalischen Düften, der Konditor bewegte sich, als versinke er in dicker, süßer Melasse, und seinem unklaren Bericht war zu entnehmen, dass sich vor allem die Kartenspieler für die Erhaltung der längeren Bahnstrecke eingesetzt hätten, weil die Reisezeit auf dieser Strecke ausgedehnten Partien entgegengekommen sei. Das alles ergab keinen Sinn, der Konditor hatte klebrige Finger und ein glattes, glänzendes Gesicht, wir fürchteten, den Zug zu verpassen, bedankten uns bei ihm und verabschiedeten uns hastig. »Das mit den Pferden war ein ganz gewöhnlicher Betrug«, sagte er, als er uns zur Tür begleitete, »das haben sie absichtlich gemacht.« »Was für Pferde?«, fragte ich, aber meine Cousine Emilia zeigte auf die Uhr und zog mich am Ärmel hinter sich her. Der Konditor führte uns zur Hintertür des Ladens, und plötzlichstellte sich heraus, dass der Bahnhof direkt hinter dem Laden lag, unglaublich nah, obwohl wir bisher angenommen hatten, dazwischen liege noch ein ganzer Stadtteil. Die Hintertür der Konditorei führte sogar direkt auf einen der Bahnsteige. Der Zug pfiff bereits zur Abfahrt, als wir in einen der Waggons stiegen, den letzten in der langen Reihe.
    Im Waggon, in dem wir mit Müh und Not noch einen Platz fanden, hatte sich die Dämmerung bereits über alles gelegt, kaum konnte man die Kleidung der Mitreisenden erkennen, ihre Bewegungen blieben schemenhaft. Die in den Ecken hockenden Kartenspieler murmelten Unverständliches vor sich hin, von Zeit zu Zeit blitzten die Karten weiß im Halbdunkel auf, die Zigarettenstummel, die an den Mündern der mittlerweile nahezu unsichtbaren Spieler klebten, glühten orangerot. Der Schaffner kam vorbei und warf einen flüchtigen Blick auf die Fahrkarten. »In diesem Wagen gibt es keinen Strom«, sagte er und lächelte rätselhaft. Der gelbe Schein seiner Lampe entfernte sich schaukelnd durch den Waggon.
    Meine Cousine Emilia war schon eingeschlafen. Unbekannte beugten sich über ihr Gesicht, murmelten Frauennamen, als würden sie sie wiedererkennen, und gingen weiter. In der Dunkelheit aß jemand schmatzend einen Apfel, dann hielt er plötzlich inne. Die Spieler waren nun gar nicht mehr zu erkennen, von ihrem Spiel hörte man nichts. Der Zug ächzte, schaukelte und versank in der finsteren Höhle der Nacht.
    Die Nacht zog sich in die Länge, und auf seinem Weg wagte sich der Zug auf immer neuen Abzweigungen in ihre unerforschten Gegenden vor. Ich sah aus dem Fenster. Der Mond schien und die Berge waren weiß und rund wie großeEier, aber ich erkannte nichts wieder. Es waren eine unbekannte Bahnstrecke und unbekannte Berge. Ob der Zug wohl, als ich eingenickt war, mittels eines komplizierten Manövers auf die andere Strecke umgeschwenkt war, oder war er schon von Anfang an auf diesen Gleisen gefahren? Der Mond zeigte sich mal auf dieser, mal auf der anderen Seite des Zuges. Wir durchquerten die Weiten der Winternacht, fuhren durch bisher nie geschaute Regionen. Ich berührte meine Cousine Emilia an der Hand: Sie war warm, und auf meine Berührungen reagierte sie, indem sie sich noch tiefer in den Schlaf zurückzog. Ich beugte mich über sie und küsste ihr vom Mondlicht erhelltes Gesicht. Sie öffnete die Augen. Das lag vielleicht an meinem Kuss, vielleicht aber auch daran, dass der Zug in diesem Moment zum Stehen kam.
    »Was ist los?«, fragte sie verschlafen. »Wir stehen«, sagte ich. Als sei der Zug im dichten Mondlicht eingesunken und stecken geblieben, stand er mitten auf dem verschneiten Feld. Meine Cousine Emilia stand auf und reckte sich: Auf einmal sah sie

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