Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)
sich unermüdlich das Unkraut mit seinen scharfen Reißzähnen bohrte, und dahinter Distelbüschel, die ihre gelben Stricknadeln von sich streckten, wuchernder Holunder. Doch in der tiefsten Dunkelheit stand dort der mächtige Baum der Nacht, dieser Riese mit Wurzeln, die an Elefantenfüße erinnerten, einem festen, rauen Stamm und einer mit dem Blick nicht zu umfassenden Krone, die sich über uns verzweigte und mit dem dunklen Himmel verschmolz. Zwischen den Zweigen funkelten wie große, reife Früchte die Sterne. Der Baum der Nacht rauschte schwindelerregend.
Wir wussten, dass uns ganz hinten im Garten der Baum der Nacht erwartete. Und trotzdem spürten wir auf dem Weg dorthin immer wieder eine wohlige Unruhe im Bauch: Würden wir ihn an seinem Platz vorfinden oder nicht? Je näher wir kamen, desto stärker wurde die Gewissheit. Wir erahnten seine Konturen in der Dunkelheit, spürten tief in uns seine mächtige Präsenz. Wir streckten die Hände aus und berührten mit den Fingerspitzen seine raue Rinde, spürten den tiefen Falten darin nach, streichelten über die Erhebungen, Astknoten und Unebenheiten und vergewisserten uns auf diese Weise noch einmal der physischen Existenz des Baumes.
Wir reckten die Arme so weit wie möglich an seinem sich verzweigenden Stamm nach oben, erfassten aber nur einen Bruchteil. Der Baum ragte weit in die Abgründe des Nachthimmels hinein: Dorthin, nach oben, zu den Sternen, strömte – wir spürten es förmlich an unseren Handflächen – der nährende Saft, den seine Wurzeln aus der Erde sogen. Wir ließen die Arme sinken und standen wortlos in der Dunkelheit – Seite an Seite, aufgewühlt angesichts dieses Geheimnisses – und schwiegen.
3
Guga, Muma und Dschudscha spähten zwischen den Wurzeln hervor und betrachteten die beiden Menschenkinder, die da in der Dunkelheit standen. Die kleinen Hexen waren sehr alt, sehr erfahren und ein wenig boshaft. Sie feixten, zwinkerten einander zu und machten anzügliche Bemerkungen. »Küsst er sie oder küsst er sie nicht?«, fragte Muma. »Er küsst sie«, sagte Guga, »so machen das die Menschenkinder doch immer.« »Er küsst sie nicht«, sagte Dschudscha, »dafür hat dieser kleine Dummkopf nicht genug Mumm.«
4
»Wo wart ihr?«, pflegten Onkel und Tante uns nach unserer Rückkehr zu fragen.
Wir antworteten dann, dass wir nachgeschaut hätten, ob alle Blumen mit geschlossenen Blütenkelchen schliefen. DenBaum der Nacht erwähnten wir nicht, denn wir wussten, dass die Erwachsenen kein Verständnis dafür haben würden. Wir verbrachten diesen Sommer bei Onkel und Tante in dem kleinen Provinzstädtchen, in dem einsamen, im Grün der Gärten versunkenen Haus, wo der Holunder in die Fenster mit den grünen Läden und den weiß gestrichenen Rahmen lugte, von denen die Farbe in dünnen Spänen abblätterte. Im Gebüsch neben dem Haus standen grüne Flaschen voller Sauerkirschen, die mit Tresterschnaps übergossen worden waren, und daneben Einmachgläser, in denen wie fette Salamander die pickeligen Gurken fermentierten. Man hatte sie in die Sonne gestellt, damit sie rascher sauer wurden. Auf dem Dach dörrten Aprikosenhälften auf flachen Blechen in der Sonne. Wo es Luftbewegung gab, trockneten aufgefädelte Okraschoten. Im ganzen Haus roch es nach Früchten, in den Wandschränken lagerten Nüsse, im Keller hingen Sträuße von Heilkräutern. Wenn Onkel und Tante bei der Arbeit waren, streiften wir durchs Haus, naschten vom noch nicht ganz gedörrten Obst, unterzogen die Marmeladentöpfe einer eingehenden Untersuchung und blätterten in den Büchern.
Das Haus war voller Bücher. Da gab es fantastische Bücher in fremden Sprachen, die – zumindest den Illustrationen nach zu urteilen – von den Sitten exotischer Völker handelten, vom Fortschritt technischer Erfindungen, von Schiffsreisen in der Südsee, von der Kriegskunst vergangener Zeiten, von Luftschiffen, Vulkanen, gewaltigen Katastrophen, von Ungeheuern und Sternbildern. Doch das fantastischste Buch von allen – gut verborgen, aber bei unseren Streifzügen doch entdeckt – war ein Lexikon der sexuellen Praktiken und Perversionen, voller finsterer, furchteinflößender undzugleich wunderbarer Bilder, die wir fassungslos und hingerissen betrachteten.
Zu Abend aßen wir alle gemeinsam in der Weinlaube. Um die Lampen mit den Emailschirmen flatterten flaumige Nachtfalter, glänzend gelbe Maikäfer und mahagonidunkle Hirschkäfer mit verästelten Geweihen. Wenn sie gegen den
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