Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)

Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)

Titel: Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vlada Urosevic
Vom Netzwerk:
Gesichtern. Die Männer hielten Stöcke mit Bernsteingriffen in den Händen, auf den Gepäckablagen standen massige Reisetruhen aus Weidengeflecht. In den Waggons war es warm, und vielleicht trugen deshalb alle Sommerkleider, obwohl dies nicht erklärte, warum an den Kleiderhaken keine Wintermäntel hingen. In einem Abteil ruhte ein alter Eisenbahner, dessen Uniform sich in einigen Details von den uns vertrauten unterschied. Um ihn herum lagen ausgebreitet auf den Polstern eigentümliche Eisenbahnkarten mit komplizierten Diagrammen und Zeichen für die Abfahrt und Ankunft der Züge.
    Als wir auf unserem Weg durch die Waggons die letzte Tür öffneten, blieben wir stehen: Der Zug endete hier. Es gab keine Lokomotive. Vor uns ragte ein Prellbock mit einer großen Bahnschwelle in die Höhe, der das Ende der Gleise markierte. Der Zug stand mitten im Schnee, schwarz und unbeweglich. Ein paar hundert Meter entfernt war der Bahnhof unseres Ortes zu sehen. Es wirkte so, als hätte der Zug einfach keine Kraft mehr gehabt, den Bahnhof zu erreichen. Wir sprangen in den weichen Schnee und rannten auf das Gebäude zu. Doch dort war niemand – es war die graue und stille Zeit vor den ersten Anzeichen der Morgendämmerung. Hinter uns stand der Zug. Niemand stieg aus.
    Wir gingen durch die stillen und bleichen Straßen nach Hause. Das Haus war hell erleuchtet – alle hatten sich Sorgengemacht, weil wir ausgeblieben waren. Wir lächelten verschlafen und antworteten vage auf die Fragen. Der Zug sei schon längst eingetroffen, sagte man uns und fragte uns aus, wie wir denn heimgekommen seien – laut Fahrplan gebe es zu dieser nächtlichen Stunde nämlich überhaupt keinen Zug, und der Bahnhof sei sogar verschlossen. Wir tranken heißen Tee in großen Schlucken und wiegten schlaftrunken die Köpfe. Ich nuschelte etwas von der möglichen Existenz einer anderen Bahnlinie und den Vorteilen der kürzeren Strecke.
    Alle starrten uns an. Dann sagte der Mann meiner Tante, ein hochrangiger Berater in Eisenbahnfragen, der jetzt im Ruhestand war, streng und in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete, diese Strecke sei schon vor fünfzig Jahren stillgelegt worden. »Wegen der Affäre mit dem Waggon voller Pferde, der eines Sommers in ihren vertrackten Windungen verloren gegangen ist«, sagte ein anderer Onkel. Draußen dämmerte es. Und als sei dies die letzte Gelegenheit, mich von dem Aberwitz einer derartigen Idee überzeugen zu können, begannen alle gleichzeitig zu reden. Sie waren auf einmal gar nicht mehr daran interessiert zu erfahren, wie wir nach Hause gekommen waren. Voller Hingabe und Leidenschaft, als spielten sie irgendein Spiel, warfen sie sich Ziffern und Prozentzahlen zu, sprachen von der Festigkeit des Geländes, der Beschaffenheit des Erdreichs entlang der Gleise und der Rentabilität des Transports unterschiedlicher Waren. Doch das überstieg bereits mein Begriffsvermögen. Mir fielen die Augen zu.
    Meine Cousine Emilia schlief schon, den Kopf zwischen Porzellantassen und Schälchen mit Zucker und Kompott auf dem Tisch, taub für alle Beweisführungen.

D REI KLEINE H EXEN UND DER B AUM DER N ACHT
    – E IN M ÄRCHEN –

1
    Drei kleine Hexen, Muma, Guga und Dschudscha, saßen in den großen, verschlungenen Wurzeln des Baumes der Nacht. Die Wurzeln waren runzelig und knotig wie die Haut an den Füßen eines Elefanten. So tief in den Falten verborgen waren die kleinen Hexen unsichtbar. Aus der Dunkelheit drang von fern der Klang von Schritten zu ihnen. »Da kommen sie«, sagte die eine.

2
    Die da kamen, das waren meine Cousine Emilia und ich. Durch den tagsüber von den Zäunen und den Mauern der umliegenden Häuser klar abgegrenzten Garten, den die Nacht in die Unendlichkeit wachsen ließ, gingen wir auf dem Weg, der vom Haus unseres Onkels wegführte, ins dunkle Unbekannte. Wir liefen über die weißen Steinplatten, mit denen der Weg gepflastert war, doch es schien uns, als träten wir aufdie Bruchstücke eines geborstenen Eisbergs, als könnten sich die schwarzen Erdfugen zwischen den Platten jeden Augenblick auftun und uns verschlingen wie Spalten im Eis, unter denen die Abgründe des Meeres dräuen. So durchquerten wir den ganzen Garten und spürten dabei, wie uns Stromstößen gleich Gänsehaut über den Körper lief.
    Ganz hinten im Garten wuchs ein Baum, der nur nachts existierte. Wir nannten ihn den Baum der Nacht. Tagsüber war an dieser Stelle nichts zu sehen außer Beeten mit Petersilie, karger Boden, durch den

Weitere Kostenlose Bücher