Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)
Wir alle kannten diese Stelle ganz genau, aber abgesehen davon, dass wir dort hin und wieder ein Feuer entfachten, um Pilze zu braten, verbanden wir nichts damit.
»Meine Träume wiederholen sich grundsätzlich nicht«, sagte Onkel Filip, nachdem er uns den Traum in groben Zügen erzählt hatte. »Das hier ist eine sonderbare Ausnahme. Dieser Schatz erscheint mir sicher nicht zufällig gleich zwei Mal im Traum.«
»Vielleicht wegen der Schulden«, meinte Tante Natalia.
»Was für Schulden?« Onkel Filip sprang auf. »Wovon redest du da?«
Im Haus ging die Rede, dass Onkel Filip große Summen verspielt habe und jetzt nervös sei, weil er diese Schulden nicht bezahlen könne.
»Wir werden einen ganzen Haufen Geld brauchen, um das Dach zu reparieren«, sagte Tanta Natalia scheinbar arglos. »Geld kann man nie genug haben.«
»Ich sage euch, dass im Weinberg ein Schatz vergraben ist, und ihr plappert von irgendeinem Dach«, sagte der Onkel und knallte die Tür hinter sich zu.
Eines Morgens war der Schnee auf einmal verschwunden. Der Erdboden zeigte sich nackt und fröstelnd und voller bunter Abfälle, die den Winter über unter einer Schneedecke gelegen hatten und auf einmal wieder auftauchten, wie fortgeworfene Dekorationen einer längst vergangenen Feier, die nun unnütz im Hof herumlagen. Der Küche war der behagliche und stille Frieden eines warmen Zufluchtsorts, den sie den ganzen Winter über gehabt hatte, verloren gegangen. Türen gingen auf und zu, jeden Moment kam irgendjemand herein oder ging hinaus, und der Kater Fjodor konnte nirgendwo ein ruhiges Plätzchen finden.
Und an einem dieser Vormittage, als der Frühling noch nicht da war, die Sonne aber den im langen Wintergrau ausgeblichenen Gegenständen im Hof langsam ihre eigentliche Farbe zurückgab, wurde es in der Küche ungewöhnlich lebhaft. Es war der Tag des Heiligen Tryphon und traditionsgemäß wollten wir in den Weinberg gehen. Tante Natalia buk große Mengen Mekici und schichtete sie in mehrere Töpfe. Opa Simon holte ein paar Flaschen Wein aus dem Keller. Mit Körben und Taschen beladen brach die gesamte Familie zum Weinberg auf.
Auf dem steilen Pfad gerieten wir alle außer Atem und zogen es vor, zu schweigen. »Vor zwei Nächten«, ließ sich da Onkel Filip vernehmen, »habe ich wieder von dem vergrabenen Schatz geträumt. Aber ich wollte euch gar nicht davon erzählen, ihr glaubt mir ja sowieso nicht.«
Das Gehen war anstrengend. Vielleicht äußerte deshalb niemand seine Meinung zur Bedeutung von Onkel Filips Träumen, weder um ihn zu ermuntern noch um ihm zu widersprechen.
Doch kaum waren wir im Weinberg angekommen, richteten sich aller Blicke auf die Stelle, wo der Traum den vergrabenen Schatz verortet hatte. Und jeder von uns sah es: Mitten zwischen den Rebpfählen, dem Baumstumpf und dem großen Stein lagen kleine Haufen frisch ausgehobener Erde. Wir rannten alle los, stürmten durch das Brombeergestrüpp, und die Tanten fluchten, während sie ihre Schals von den Dornen der Sträucher nestelten, die sie am Laufen hinderten.
Dann standen wir im Kreis um die tiefe Grube und starrten nach unten. Am Boden der Grube war nichts außer ein paar Splittern morsches Holz und einem Stück Strick.
»Das ist ja wie in der Geschichte aus ›Tausendundeiner Nacht‹«, rief meine Cousine Emilia.
»Ich hab’s euch doch gesagt«, sagte Onkel Filip mit vorwurfsvollem Tonfall. »Drei Mal wurde mir diese Stelle im Traum gezeigt, aber es hat ja niemand auf mich gehört. Und da ist der Traum eben zu einem anderen gegangen. Und der hat auf ihn gehört und hat sich den Schatz geholt.«
»Aber das hier ist unser Land«, sagte Opa Simon wütend. »Und niemand hat das Recht, uns etwas wegzunehmen, was hier vergraben ist.«
In den darauffolgenden Tagen führte die Familie umfassende und langwierige Nachforschungen durch, um herauszufinden, welcher dreiste Eindringling es gewagt hatte, in unserem Weinberg zu graben, und vor allem, was er da gefunden hatte. In unserer Küche gaben sich morgens, mittags und abends die unterschiedlichsten Menschen die Klinke in die Hand: die Besitzer der angrenzenden Weingärten, Feldhüter, Steuereintreiber, Lastenträger, Altwarenhändler, Kesselflicker, seltsame alte Männer, die sich illegal mit archäologischenAusgrabungen beschäftigten, Goldschmuggler, Jäger und Landvermesser – alle, die die Grabung vielleicht beobachtet oder etwas über ihr Ergebnis erfahren haben mochten. Die Gäste wurden von den Tanten mit
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