Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)
in einen nächtlichen Tumult verwickelt und ins Gefängnis geworfen, nicht ohne vorher noch ordentlich durchgeprügelt worden zu sein. Im Verhör gesteht er, wegen des Traums nach Isfahan gekommen zu sein. Als der Kommandant der Gefängniswache davon hört, sagt er, das sei doch alles Unsinn. Er glaube jedenfalls nicht daran, denn wenn er daran glaubte, müsste er nach Kairo reisen, wo laut einem Traum, den er immer wieder habe, ein Schatz auf ihn warte – in einem Garten versteckt, wo hinter einer Sonnenuhr ein Feigenbaum wachse, hinter dem Feigenbaum eine Quelle sprudle und hinter der Quelle der Schatz liege. Natürlich erkennt der Mann aus Kairo im Traum desKommandanten der Isfahaner Wache seinen eigenen Garten wieder, kehrt nach Kairo zurück und gräbt den Schatz aus.
Diese Geschichte hier handelt hingegen von einem Traum, den Onkel Filip mehrmals träumte – und von seinen Folgen. Bis zu einem gewissen Grad unterscheidet sie sich von jener aus ›Tausendundeiner Nacht‹.
Diese Unterschiede traten aber natürlich nicht sofort zutage. Als Onkel Filip an einem strahlenden und frostigen Wintermorgen in die Küche kam und verkündete, er habe in dieser Nacht davon geträumt, dass in unserem Weinberg, und zwar in dem Teil, der noch von Brombeersträuchern bedeckt war und wo Opa Simon eines Tages Pfirsichbäume zu pflanzen gedachte, ein Schatz vergraben sei, zeigte sich niemand sonderlich interessiert. Die Morgensonne säumte die vereiste Schneekruste auf den Dächern der Nachbarhäuser mit orangefarbenem Glanz, kroch schlangengleich über das Blech der Regenrinnen und sandte ihre leuchtenden Morsesignale über die Spitzen der silbernen Eiszapfen, die von den Traufen hingen. Der Kater Fjodor saß auf der Fensterbank und leckte sich mit seiner rosigen Zunge das Fell, das von der Kälte glänzend und prächtig geworden war. Tante Natalia, die Älteste der Tanten, schob Holz in den großen, bullernden Ofen. In den Tassen dampfte der Tee. Alles war hell und festtäglich.
Onkel Filips Traum stand aus irgendeinem Grund in auffälligem Gegensatz zur heiteren Atmosphäre dieses Morgens. Er brachte Unruhe und Unfrieden in die Sorglosigkeit, die gerade im Haus herrschte. Wir spürten, wie ein kalter Schatten durch das Morgenlicht glitt. Als sei ihm plötzlich kalt geworden, sträubte der Kater Fjodor sein Fell und rollte sich zusammen.
»Mein lieber Filip«, sagte Tante Milena, »das mit dem Schatz da ist wirklich vollkommener Blödsinn.«
Onkel Filip verzog beleidigt den Mund.
»Gut«, sagte er, »wenn ihr es nicht hören wollt, dann eben nicht.«
»Und übrigens«, mischte sich meine Cousine Emilia ein, »dieser Traum erinnert mich sehr an einen aus ›Tausendundeiner Nacht‹. An den aus der Geschichte vom Mann aus Kairo, der nach Isfahan geht.«
»Was wollt ihr denn?«, fragte Onkel Filip, mittlerweile wütend geworden. »Etwa neue Träume? Es gibt keine neuen Träume, alle sind schon geträumt worden.«
Wir mussten uns also mit dem Gedanken abfinden, dass unsere Träume nichts anderes waren als Träume, die schon viele Male durch das Bewusstsein von anderen Träumern gegangen waren. Ob sie dabei ihre Bedeutung änderten, ob ihre Botschaften andere wurden, da ihre wirren Inhalte schon so häufig kundgetan worden waren, ob neue Elemente dazukamen – all das hing als Frage inmitten der Gerüche nach Suppe vom Vortag und dem Brot vom Frühstück in der Küchenluft, aber niemand vermochte sie zu beantworten.
»Ich denke, dass im Weinberg jetzt hoher Schnee liegt«, meinte Onkel Jakov. Er betrachtete seine zerrissenen Schuhe, die neben dem Ofen standen, und stopfte alte Zeitungen hinein.
Das war das Ende der Diskussion über die Originalität von Onkel Filips Traum, aber nicht das Ende der Geschichte vom vergrabenen Schatz.
Obwohl es gegen Mittag schon von den Dachtraufen tropfte, presste der Winter das Haus noch immer in seiner Panzerungaus verharschtem Schnee zusammen, als Onkel Filip sich wieder mit der schon bekannten Nachricht zu Wort meldete: In der Brache oberhalb des Weinbergs müsse gegraben werden, denn dort liege der Schatz. In seinem neuen Traum war die bewusste Stelle präzise beschrieben worden. Onkel Filip meinte, er liege im Mittelpunkt des Dreiecks zwischen dem Haufen alter, längst ausgemusterter Rebpfähle, dem halb verfaulten Baumstumpf, von dem Opa Simon behauptete, er stamme von einer Ulme, und dem großen runden Stein, der wie das Ei eines Riesenvogels inmitten der Brombeersträucher lag.
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