Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)
Katers kannten, schaffte er es doch immer wieder, uns einen Schrecken einzujagen.
»Was ist denn da, was ist denn da bloß?«, flüsterte meine Cousine Emilia verängstigt. Dabei wies sie auf das dunkle Haus, in das sich die Pupillen des Katers Fjodor bohrten, und nahm meine Hand.
Bei eingeschaltetem Licht zeigte sich dann, dass dort gar nichts war. Der Kater blieb noch ein paar Augenblicke stocksteif stehen und strich dann schnurrend um unsere Beine, als wäre nichts gewesen.
»Vielleicht eine Maus oder eine Küchenschabe«, sagte ich, doch insgeheim wusste ich, dass es sich um nichts Wesenhaftes handelte. Der Kater Fjodor sah etwas, das für die anderen unsichtbar war.
»Ich habe Angst«, sagte meine Cousine Emilia, die sich im Kreis drehte und misstrauisch jedes Möbelstück musterte. In diesen Augenblicken umgab uns das Haus wie ein völlig fremder Raum: Alles darin war auf einmal unbekannt, rätselhaft, sogar bedrohlich geworden. Es musste immer ein wenig Zeit vergehen, bis wir uns wieder daran gewöhnt hatten und es uns vertraut und alltäglich erschien.
Der Kater Fjodor hatte in der Zwischenzeit schon ein ruhiges Plätzchen auf dem Teppich gefunden und sich zusammengerollt, um ein sorgloses Schläfchen zu halten.
»Was sehen die Katzen im Dunkeln?«, fragte Emilia.
»Die Katzen sehen die Vergangenheit«, antworteten die Tanten. »Was einmal an einem Ort passiert ist, erscheintihnen wieder, nur ihnen. Längst vergessene Ereignisse treten aus dem Grau der Vergangenheit und erwachen vor ihren Augen zum Leben.«
»Die Zeit ist irreversibel«, sagte Opa Simon streng, wie immer, wenn er wissenschaftliche Wahrheiten aussprach. »Irre-ver-si-bel«, wiederholte er und fügte dann hinzu: »Sogar für Katzen.«
»Vielleicht handelt es sich ja auch um die Zukunft«, brachte der Richter Pletvarski unentschlossen und zögerlich seine Auffassung vor. Er genoss es, den gelehrten Gedankengängen Opa Simons zu folgen, und kam abends oft bei uns vorbei, um sich zu unterhalten. »Vielleicht haben sie die Macht oder besser gesagt die Eigenschaft, die Dinge im Vorhinein zu sehen?«
»Unsinn«, sagte Opa Simon. »Katzen besitzen nicht die Macht der Präkognition. Niemals und nirgendwo haben sie je etwas vorhergesagt. Sie haben nicht einmal vor irgendetwas gewarnt. Die Gänse in Rom – die ja. Und in Japan existieren Fische, die ein Erdbeben vorhersagen können, doch dafür gibt es eine wissenschaftliche Erklärung. Aber Katzen – nein. Von so etwas berichtet die Geschichte nichts.« Da war Opa Simon sicher und ließ sich nicht beirren.
»Was ist es also Ihrer Ansicht nach?«, fragte der Richter Pletvarski und wischte sich mit einem weißen Taschentuch den Schweiß von der Stirn. »Weder Vergangenheit noch Zukunft – ja, was denn dann?«
»Die Katzen fantasieren«, antwortete Opa Simon im Brustton der Überzeugung. »Sie haben eine reiche Einbildungskraft. Sie stellen sich ganz einfach etwas vor. Sehen wir uns doch nur einmal, wie Karl Groos sagt, spielende Kätzchen an …«
Die Diskussion driftete in wissenschaftliches Fahrwasser. Opa Simon führte die Theorien Karl Büchers an, zitierte aus Plechanovs »Briefen ohne Adresse« und gelangte bis zu Pavlovs Theorien.
»Auf dem Dachboden habe ich Illustrierte von vor dem Krieg gefunden«, sagte ich zu Emilia. »Soll ich sie dir zeigen?«
Durch die Fenster drang das ferne Rauschen der Stadt herein, der Duft der fauligen, auf die Steinplatten des Nachbarhofs gefallenen Zwetschgen, das Gesurre der Stechmücken. Langsam bezwang die Kühle der Nacht die Schwüle, doch es war, als klammere sich die stickige Sommerluft an den Möbeln fest, als verberge sie sich in den staubigen Winkeln, als durchdringe sie das Gewebe der Sessel und Betten, um das Haus nicht verlassen und sich in der Nacht verlieren zu müssen.
Meine Cousine Emilia und ich saßen im Halbdunkel auf dem Kanapee im Flur, das eingezwängt in dem Winkel unter der Treppe stand, und blätterten in Gesamtausgaben von Vorkriegsillustrierten. Wie zufällig streifte ich ihre Hand: Ich spürte, wie in ihr noch immer der Sommertag brannte – ihre Haut war ein kleines bisschen feucht von Schweiß und warm und empfänglich für meine Berührungen.
»Komm, lass uns auf den Dachboden gehen«, wisperte ich an ihrem Ohr. »Wir holen noch mehr Illustrierte. Es gibt da auch Modejournale.«
»Mmmm«, sagte sie, »nein. Dort ist es dunkel.«
»Wir nehmen eine Lampe mit«, meinte ich. »Komm. Wir steigen hoch. Und oben küsse
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