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Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)

Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)

Titel: Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vlada Urosevic
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untermauern, die Namen von Mittelmeerhäfen und mondänen mitteleuropäischen Badeorten, von kleinen, in den Weiten Südamerikas verloren gelegenen Städtchen und von Bahnhöfen entlang der Transsibirischen Eisenbahn, von Südseeinseln und Walfängersiedlungen im Schnee Alaskas. Durch all diese Orte führte die mit ihrer Herkunft verbundene Reiseroute, die wundersame, abenteuerlicheErklärung dafür, wie sie angeblich in das Haus meines Großvaters gelangt war. Ich wusste, dass sie sich das alles nur ausgedacht hatte, und dennoch verunsicherte mich irgendetwas in alldem und flößte mir ein Misstrauen gegenüber der Wirklichkeit ein, wie ich sie kannte.
    Ich wusste, dass der Mann und die Frau, die in den ersten Tagen des Krieges mit dem kleinen Mädchen, das sie Emilia nannten, in unserem Haus aufgetaucht waren, entfernte Verwandte von uns waren. In welchem Verwandtschaftsverhältnis wir aber zu ihnen standen, das konnte mir keiner sagen. Sie waren dann fortgegangen und hatten Emilia bei uns zurückgelassen. Über ihr weiteres Schicksal wurde im Haus wenig gesprochen: Es war dann die Rede von Gebirgen, Wäldern und Waffen, und wenn überhaupt die Sprache darauf kam, senkten alle die Stimme. Es lag etwas Verbotenes in diesem Thema – was sie getan hatten, fiel nicht unter das, was man bei uns als »anständiges Benehmen« ansah. Sie hatten sich »denen« angeschlossen, und das allein sagte schon alles: Hinter diesem Wort verbargen sich eine Reserviertheit, ein leichter Vorwurf und Missbilligung. »Sie predigen freie Liebe wie bei Arzybaschew«, flüsterten meine Tanten. »Sobald sie an der Macht sind, werden sie die Geschäfte verstaatlichen«, murmelte besorgt mein Großvater. »Herr Pletvarski«, wandte er sich dann an den Richter, »bei diesen Kommunisten weiß man nie – die sind noch verschlagener als die Engländer!«
    Doch dann, aus heiterem Himmel, sprach niemand mehr über Emilias Eltern. Sie existierten einfach nicht mehr, waren verloren gegangen in den ausgebliebenen Nachrichten, im Schweigen der Familienangehörigen und in dem Unbehagen, das sich im Gespräch einstellte, wenn sich ein neugierigerAußenstehender diesem Thema ungeschickt näherte. Waren sie tot? Gefangen genommen worden? Verschollen? Ihr Schicksal war von Schweigen umgeben. In Emilias und meiner Anwesenheit wurden sie nicht erwähnt, und wir begriffen, dass wir aus irgendeinem Grund besser keine Fragen stellen sollten.
    »Galapagos«, murmelte Emilia, »Kamtschatka, Celebes.« Sie liebte es, Opa Simons Landkarten zu betrachten und auf ihnen ungewöhnliche Namen aufzuspüren. »Venezuela«, sagte sie nachdenklich, zerstreut, verträumt. »Sansibar, Cocorocuma, Labrador.« Ich sammelte damals Briefmarken, und je mehr neue Marken zu meiner Sammlung hinzukamen, desto größer wurde meine Neugier auf die unendliche Vielfalt der Welt. In der bedrückenden Atmosphäre der Stadt im Würgegriff des Krieges waren die Briefmarken für mich der Beweis, dass es auch Länder gab, in denen kein Krieg geführt wurde, in denen man nicht jeden Tag altbackenes Maisbrot essen musste, in denen man im Winter keine Schuhe mit löchrigen Sohlen trug, durch die das Wasser drang. Wenn ich in der Küchenecke neben dem Ofen saß und sie in das Album einsortierte, gelangten durch die Berührung mit diesen winzigen, von den Stempeln unbekannter Städte bedeckten Papierstückchen Nachrichten von der Existenz wundersamer Inseln, rätselhafter Urwälder, gefahrvoller Wüsten und unberechenbarer Meere zu mir.
    »Madagaskar, Macao, Mindanao«, murmelte meine Cousine Emilia, während sie mir beim Einsortieren zusah. Gemeinsam betrachteten wir auf den Landkarten die Orte, aus denen diese bunten Bildchen gekommen waren, und unsere Finger berührten sich über den Mündungen der großenStröme, über gefährlichen Meerengen und Vulkanen. Im ›Michel‹, dem umfangreichen philatelistischen Katalog, den Onkel Jakov von irgendwoher mitgebracht hatte und in dem Briefmarken aus aller Welt beschrieben waren, überprüften wir die Sätze und suchten die Fehler in Farbe und Aufdruck, die den Wert einzelner Marken in schwindelerregende Höhen steigerten. Im Katalog waren Marken aufgeführt, die ich noch nie gesehen hatte, aus Ländern, von denen ich noch niemals gehört hatte.
    »Weißt du, wo Tuwa liegt?«, fragte ich Emilia. »Im Himalaya«, sagte sie in dem Versuch, es zu erraten, »Hindukusch, Ararat.« »Die haben da dreieckige Marken«, sagte ich und zeigte ihr die Seite im

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